Der Rattenzauber
Pflanzen!
»Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird«, fuhr er leise fort. »Keiner, den ich kenne, hat je ein Alraunenwesen getroffen, geschweige denn geschaffen. Und doch muß es einen Weg geben, das Unrecht, das in Hameln geschehen ist, rückgängig zu machen.«
Ich faßte mich unter Mühen und fragte: »Von welchem Unrecht sprecht Ihr? Wißt Ihr, was mit den Kindern geschah?«
Eine Weile lang erwiderte er starr meinen Blick. Die dunkle Glut seiner Augen schien sich in meine Gedanken zu bohren wie ein Brandeisen. Für einen Moment schien es mir, als wäre ich dem Geheimnis nie näher gewesen, doch als er schließlich sprach, waren seine Worte eine herbe Enttäuschung: »Ich weiß es nicht«, sagte er müde. »Ich weiß nicht einmal, wer es weiß. Viele müssen die Lösung des Rätsels kennen, doch keiner bricht sein Schweigen. Nicht die Mütter, nicht die Väter, niemand. Ich versuche nur, den Schaden, der angerichtet wurde, gutzumachen, nicht die Schuldigen zu richten. Das obliegt allein Euch, edler Ritter.«
Der Alte mußte den Verstand verloren haben. Sein Vorhaben, die Alraunen zu Kindern heranwachsen zu lassen, mochte gelingen oder scheitern – jemand würde sich später darum kümmern müssen. Es war nicht meine Aufgabe, einen alten, wirren Mann zu richten. Und ich war froh darüber.
Doch eine letzte Frage beschäftigte mich schon eine ganze Weile, und ich mochte ihn nicht verlassen, bevor ich sie ausgesprochen hatte: »Ihr sagtet, daß Ihr oft ins Klarissenkloster geht. Habt Ihr je eine Schwester Julia getroffen?«
Er überlegte einen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich habe meist mit der Äbtissin zu tun, öfter noch mit den Stallknechten. Das Schweigegelübde verbietet es den Schwestern, mit mir zu sprechen, und ich bringe sie nicht in Versuchung.«
»Dann habt Ihr nie von Julia gehört?«
»Niemals. Was bedeutet sie Euch?«
Ich seufzte. »Nichts, gar nichts. Habt trotzdem Dank, Vater Johannes. Ich werde niemandem von dem berichten, was ich hier oben gesehen habe. Doch seid versichert, falls die Kinder je wieder auftauchen und sich erweisen sollte, daß sie nicht jene sind, die verschwanden, sondern Eure Alraunengeschöpfe, wird die Welt davon erfahren.«
Er senkte den Blick. »Was ist Schlimmes daran, diesen Müttern und Vätern helfen zu wollen? Ist es nicht das, was auch Ihr wollt? Wer von uns beiden ist näher bei Gott – jener, der bestraft, oder jener, der erschafft?«
Ich hob die Schultern. »Gott vollbringt beides, Vater.«
»Ja, gewiß«, entgegnete er. »Aber liegt es nicht in der Hand eines jeden, zu strafen? Jeder Mensch kann Leben nehmen. Doch wer kann schon neues geben?«
»Seid Ihr denn sicher, daß Ihr das vermögt?«
Seine Stimme war jetzt so leise, daß ich sie kaum zu verstehen vermochte. »Wir werden sehen, Ritter Robert. Wir werden sehen.« Damit sank er in sich zusammen wie eine welke Blume und sagte kein weiteres Wort mehr.
Ich wandte mich schweigend um, stieg über den Kamm der Bodensenke und lief so schnell ich konnte talwärts.
Einmal glaubte ich zwischen den Bäumen eine Gestalt zu erkennen. Eine Frau in schwarzen Gewändern, das Gesicht hinter einem schwarzen Schleier verborgen. Wie ein Geist tauchte sie zwischen den Stämmen auf und war im selben Augenblick wieder verschunden. Als ich die Stelle erreichte, war da niemand, nur ein verkohlter Baumstumpf mit annähernd menschlicher Form, verbrannt von einem Blitzschlag.
KAPITEL 5
Von jener Stunde an, in der ich erneut meine Kammer in der Herberge betrat, wurden die Tagträume schlimmer. Ich fragte mich, was Wirklichkeit, was Wahnsinn war. Mir war, als öffnete sich um meinen Verstand eine Reihe von Türen, durch die Dunkelheit in meine Gedanken wehte wie ein eisiger Frostwind. Es fällt mir schwer, einen Vergleich zu finden, für das, was geschah. Beinahe schien mir die Welt wie ein Spiegelbild im Wasser eines Tümpels, das ein leichter Lufthauch erzittern läßt. Alles war noch deutlich zu erkennen – die Häuser, die Menschen, die Stadt –, und doch war es, als verfälsche sich ihr Bild auf geheimnisvolle Weise, als gerate die Oberfläche der Dinge in Wallung wie die Spiegelung auf dem Wasser.
Ich fühlte den zwingenden Drang, meine Hände vor die Augen und Ohren zu schlagen, nur noch in mich hineinzuhorchen, die Schwärze meiner Lider zu erforschen und die Welt dorthin zu sperren, wohin sie gehörte – nach außen.
Es war in jenen wirren Stunden, als der Bronzekopf
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