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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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tatsächlich seid, könnte ich Euch vielleicht eine Antwort geben. Aber so – nein, ich weiß es nicht. Ich habe Euch meinen Ratschlag gegeben. Kehrt zurück nach Braunschweig, laßt Euch von den Ärzten des Herzogs kurieren.«
    Damit wandte er sich um und verließ die Kammer. Die Tür wurde zugezogen, ich war allein. Mit dem Schmerz, mit meiner Angst.
    ***
    Es war spät in der Nacht, als das Schreien begann. Mag sein, daß ich wach lag, mag sein, daß ich schlief; sicher ist, daß mich ein Heulen wie dieses selbst aus tiefstem Schlaf gerissen hätte. Es war ein Laut voller Menschlichkeit und Trauer, ein peinvoller Singsang, der anhob und absank wie die Brust eines Sterbenden. Er klang nach Grauen und Verlust, nach Wahn und schwindender Erinnerung.
    Das Schreien kam von draußen, von der Gasse oder aus einem der angrenzenden Häuser. Ehe ich mich versah, saß ich aufrecht im Bett, schwang die Beine über die Kante. Der Schmerz war noch da, aber die Medizin des Einsiedlers unterdrückte ihn. Das dumpfe Pochen in meiner Brust fühlte sich an, als sei mir ein zweites Herz gewachsen. Vielleicht hatte ich eines nötig.
    Ich stand auf und brauchte eine Weile, ehe ich schwankend auf beiden Füßen Halt fand. Vorsichtig machte ich einige Schritt vorwärts und bemerkt zu meinem Erstaunen, daß es besser ging als erwartet.
    Nackt trat ich ans Fenster und stieß die Läden auf. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Hameln war die Wolkendecke aufgerissen, und der Mond hing wie ein blindes Auge in der Schwärze des Himmels. Sein Licht floß als silbriger Schimmer über die Giebel und Dächer, doch immer noch schien es, als seien die Schatten stärker als der Mondenschein. Dunkelheit kauerte in jedem Winkel wie ein schlafendes Tier.
    Die Schreie verstummten für einen Augenblick, nur um gleich darauf von neuem zu beginnen – noch lauter, noch verzweifelter. Überall erschienen nun fahle Gesichter in den Fenstern, hier und da flackerte eine Kerze auf. Unten in der Gasse erwachten die Schatten aus ihrem Schlaf, als die ersten Menschen aus den Häusern liefen und zum Quell des Gejammers eilten. Ich reckte mich weit über die Fensterkante hinaus, wie eine Galionsfigur am Bug eines Seglers, und wollte sehen, wohin sie liefen. Schon nach wenigen Schritten bogen die Männer und Frauen nach rechts und verschwanden hinter der Ecke des Gasthofs. Die Schreie mußten aus einem Haus an seiner Rückseite kommen. Ungeachtet meiner Verletzung und des erbärmlichen Zustands, in dem ich mich befand, beschloß ich, der Sache nachzugehen.
    Ich zog mir die Kleidung über, eine langwierige, äußerst mühsame Prozedur, verbunden mit neuerlichem Schmerz. Meine größte Sorge war, daß die Wunde abermals aufbrechen würde, doch das verbrannte Fleisch näßte nur ein wenig. Hollbecks Tinktur verdankte ich, daß mir vor Pein nicht die Sinne schwanden. Im Hintergrund tickte der Schädel. Ich schenkte ihm keine Beachtung.
    Benommen trat ich hinaus auf den Flur und öffnete die Hintertür, die zur Treppe an der Rückseite des Hauses führte. Sogleich schlugen mir Lärm und das Flackern von Fackeln entgegen. Rund ein Dutzend Gestalten stand vor einer ärmlichen Hütte. Ich kannte sie, ich wußte, wer dort lebte.
    Ich beschleunigte meine Schritte, stieg geschwind die knarrende Holztreppe hinab. Das Licht der Fackeln badete mich in Helligkeit. Blutspritzer waren auf meiner Kleidung. Ich entdeckte sie, als ich den Fuß der Treppe erreichte und vorsichtig an mir herabsah, um nicht über die unterste Stufe zu stolpern. Blut auf meiner Hose und auf meinem Wams. Zahllose kleine Tropfen, kaum zu sehen. Hatte ich mich während der mißlungenen Austreibung nicht nur verbrannt, sondern auch geschnitten? Ich hatte keine weiteren Wunden an meinem Körper bemerkt. Ein seltsames Gefühl beschlich mich, ähnlich, wie ich es im Zimmer des toten Baumeisters gespürt hatte. Da waren Unsicherheit und Zweifel. Zweifel an mir selbst.
    Die Menschen vor der erleuchteten Hütte wandten mir die Rücken zu. Kurz bevor ich sie erreichte, änderte ich meinen Entschluß. So schnell ich es vermochte und dabei so unauffällig wie möglich, lief ich zurück zum Haus, die Treppe hinauf, in meine Kammer. Dort griff ich nach Dantes Mantel und warf ihn mir über die Schultern. Niemand durfte das Blut auf meinen Kleidern sehen.
    Erneut stieg ich hinab und ging hinüber zur Hütte. Die Leute machten bereitwillig Platz, als sie meiner gewahr wurden. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ging ich

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