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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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eingefallen, mit stechenden, bösen Augen. Es war Waldrada, die Äbtissin, und sie war nackt. Ihre Haut war wie Kalk, ihr Körper von gespenstischer Blässe, ein dürres Gerippe von Frau, faltig und ohne ein Haar. Ihre Brüste hingen wie ausgepreßte Wasserschläuche bis zum Bauch, durchzogen von dunklen Adern. Meine Hand mit der Fackel zitterte, ich stand da wie versteinert, nicht in der Lage zu laufen, zu sprechen, gar zu denken. Dann löste sich die Erscheinung plötzlich auf, die bleiche Hexe zerfaserte wie Nebelschwaden. Zuletzt war die Mauernische leer, nichts deutete darauf hin, was eben hier geschehen war.
    War ich erneut einem Streich meiner Einbildung zum Opfer gefallen? Einem gräßlichen Spuk, gewachsen in mir selbst, wie vor Tagen, als ich die Mannen des Vogts für gehörnte Dämonen hielt? Der Irrsinn verfolgte mich mit Riesenschritten, holte von Tag zu Tag weiter auf. Manchmal griff er nach mir, packte mich an der Schulter, so wie jetzt, und ließ mich seinen gräßlichen Atem spüren. Er verstärkte all meine Gefühle, ließ meine Angst ins Bodenlose wuchern. Aus jeder Furcht schuf er Bilder, ließ Gestalten in meinem Schädel erstehen, wo es keine gab, allein weil ich fürchtete, es könnte sie geben.
    Ich erwachte aus meiner Erstarrung, fuhr herum und rannte los. Die Treppe hinauf, immer drei Stufen auf einmal, die Fackel umklammert wie ein Schwert. Oben angekommen stolperte ich über die letzte Stufe, stürzte, schlug mir den Schädel an und rollte mich zur Seite.
    Keuchend lag ich da, steckte mit der Fackel fast meine eigene Kleidung in Brand und konnte mich erst nach einigen Augenblicken aufraffen. In meinem Kopf hämmerte es wie in einer Waffenschmiede.
    Es grenzt an ein Wunder, daß mich abermals niemand bemerkte. Fast war mir, als sei das Kloster ausgestorben, als befinde sich kein Mensch mehr in den verriegelten Kammern und Hallen. In diesem Teil des Gebäudes brannten mehr Fackeln an den Wänden, so daß ich meine eigene austrat und die Treppe hinabwarf. Ganz in der Nähe entdeckte ich weitere Stufen, die hinauf ins Obergeschoß führten. Irgendwo dort mußte Schwester Julia in ihrer Kammer schlummern. Dabei stellte sich mir eine weitere Schwierigkeit. Nicht nur hatte ich keine Ahnung, welche Kammer ihr gehörte – ich wußte auch nicht, wie Julia aussah. Was geschehen würde, wenn ich einen Blick in jede Kammer werfen würde, vermochte ich mir allzu gut vorzustellen. Doch immerhin war ich bis ins Innere des Klosters gelangt, daher war ich zuversichtlich, daß mir auch der Rest meines Vorhabens gelingen würde. Ich mußte mit Julia sprechen. Ein ganz und gar unvernünftiger Teil meiner Selbst sagte mir, daß sie wußte, was in Hameln geschah.
    Was aber, wenn sich herausstellen sollte, daß sie in der Tat Juliane war, meine totgeglaubte Schwester?
    Nein, sagte ich mir, das konnte nicht sein. Juliane war tot. An Pilzgift und Wahnsinn elend verreckt. Der Gedanke brachte wenig Linderung meiner Zweifel. Die Vision Waldradas stand mir wieder vor Augen, ihr nackter, häßlicher Körper. Meine Abscheu verwandelte sich in Ekel vor mir selbst. Wenn ihr Bild meinem Geist entsprungen war, hatte nicht ich selbst es dann erschaffen? War es nicht eine Vorstellung, die tief in mir schlummerte wie ein böses Geheimnis?
    Zaghaft näherte ich mich der Treppe nach oben, setzte langsam einen Fuß auf die unterste Stufe. Ich bin nicht mehr sicher, was ich erwartete – vielleicht eine Gestalt, die hinter einer Ecke hervorsprang. Einen schrillen Schrei der Empörung darüber, daß ein Mann es wagte, seine Schritte in diese der heiligen Weiblichkeit vorbehaltenen Räume zu lenken. Doch nichts dergleichen geschah. Ich erklomm die Treppe ungehindert und gelangte auf einen weiteren Flur. Von ihm zweigten zu beiden Seiten zahlreiche Türen ab, die Kammern der Klarissenschwestern. Spätestens jetzt war der Augenblick gekommen, in dem ich mir über mein weiteres Vorgehen klar werden mußte.
    Da vernahm ich einen Laut. Angestrengt lauschte ich ins Zwielicht. Es war ein gedämpftes Klatschen, das sich in kurzen Abständen wiederholte. Dazu gesellte sich ein leises Wimmern. Beides kam aus einem Raum, der links von mir am Ende des Flurs lag. Seine Tür stand einen Spaltbreit offen, flackernder Kerzenschein fiel nach außen. Leise schlich ich darauf zu, schob ein Auge vor den Türspalt und schaute ins Innere.
    Was ich sah, ließ mein Herz aussetzen. Drei entblößte Frauen lehnten mit den Handflächen gegen die Wand, ihre

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