Der Rattenzauber
das Mädchen an mir vorüber und hastete leise den Gang hinunter. Der einzige Laut war das Rauschen von Dantes Mantel, den sie mit sich nahm. Ich ließ sie laufen und wünschte ihr in Gedanken alles Gute. Ich hoffte aufrichtig, daß sie unentdeckt aus dem Kloster entkommen und irgendwo ihr Glück finden würde.
Ein letztes Mal blickte ich mich um, entdeckte niemanden und legte schließlich eine Hand an das Holz der Tür. Mit einem leichten Ruck gab sie nach und schwang nach innen. Ein leises Quietschen drang an mein Ohr, als die Scharniere aus ihrem Schlaf erwachten. Die Kammer besaß kein Fenster, nur einen winzigen Schlitz im Mauerwerk, eine Handbreit unter der Decke. Vom Gang fiel der schmutzig gelbe Lichthauch einer fernen Fackel herein und ließ mich die groben Umrisse einer Pritsche erkennen. Etwas lag reglos darauf, doch ob es ein Mensch oder nur zerknüllte Decken waren, blieb mir vorerst verborgen. Alles übrige war in Dunkelheit getaucht. Ich wagte nicht, die Tür länger offenstehen zu lassen, aus Angst vor Entdeckung. So also trat ich ein und drückte die Tür hinter mir zu. Mein Herz raste, seine Schläge klangen in meinen Ohren wie Trommelschläge.
Ich rief mich selbst zur Ruhe und lauschte in die Schwärze, ja, da waren leise Atemzüge.
»Julia?« flüsterte ich leise und machte dabei einen zaghaften Schritt nach vorne.
Die Decke raschelte. »Ich muß mich wundern, edler Ritter. Ein Besuch zu dieser Stunde, an diesem Ort?«
Ich erkannte ihre Stimme sofort, obgleich ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Selbst der sanfte Spott war der gleiche. Sie mußte wachgelegen haben.
»Großer Gott, Julia, ich habe Euch tatsächlich gefunden …« Ich gab mir keine Mühe, meine Erleichterung zu verbergen. Schon bei unserer ersten Begegnung im Klosterkeller war mir klargeworden, daß sie jeden meiner Schritte voraussah, die Wahrheit hinter jedem Wort durchschaute.
»Was wollt Ihr?« fragte sie, nun ein wenig barscher. »Wißt Ihr, was geschieht, wenn man Euch hier entdeckt? Habt Ihr nur ein einziges Mal daran gedacht, welche Folgen das für mich haben könnte?«
Ich hatte mir fest vorgenommen, die Unsicherheit, die mich bei unserem ersten Gespräch übermannt hatte, keinesfalls erneut aufkommen zu lassen. Doch wie so oft bei solchen Vorhaben erwies sich auch dieses als Selbsttäuschung. Ich spürte, wie mein Widerstand allein durch ihre Anwesenheit zerbarst. Ich war ihr schutzlos ausgeliefert, schlimmer noch als damals, denn ihre Worte verstanden es zudem, ein Schuldgefühl in mir zu wecken. Sie hatte recht: Keinen Gedanken hatte ich daran verschwendet, die Folgen für sie abzuwägen. Allein meine eigene Sicherheit war mir wichtig gewesen. Mit dieser Erkenntnis trieb sie mich in die Enge. Plötzlich war wieder ich derjenige, der die Fragen beantwortete.
Weil ich mich nicht anders zu wehren wußte, machte ich einen müden Versuch, Gleiches mit Gleichem zu vergelten: »Euch scheint wenig an Eurem Schweigegelübde zu liegen.«
»Wäre das denn in Eurem Sinne?« fragte sie spitz. »Seid Ihr vielleicht gar nicht hier, um mit mir zu sprechen? Doch was, so frage ich Euch, wollt Ihr dann?«
»Macht Euch nicht über mich lustig.« Was als scharfe Erwiderung gedacht war, kroch mir lahm und stumpf von den Lippen. Es klang wie eine Bitte – was alles nur noch schlimmer machte.
»Weshalb seid Ihr gekommen?« fragte sie noch einmal. Ihr Stimme klang weicher als vorhin, fast, als habe sie Mitleid mit mir.
Ich atmete tief durch. »Ich glaube, daß Ihr viel mehr wißt, als Ihr zugebt. Ihr müßt mir die Wahrheit sagen: Was geschah wirklich in Hameln? Wo sind die Kinder?«
»Ich habe Euch schon einmal gesagt, daß ich nichts darüber weiß«, erwiderte sie leise.
»Das war eine Lüge.«
»Was macht Euch da so sicher?«
»Mein Gefühl«, sagte ich schwach.
Sie lachte auf. »Und das hat Euch ja schon immer den richtigen Weg gewiesen. Wie damals, beim Pilzesammeln im Wald.«
Wieder trafen mich ihre Worte mit grausamer Macht. »Ich weiß nicht, was Ihr meint«, stammelte ich.
Noch immer war sie in der Dunkelheit nicht zu sehen. Nur ihre Stimme schwebte in der Finsternis wie ein großer schwarzer Vogel, der mit dem Schnabel nach meinen Augen hackte. »Wart nicht Ihr es, der die vergifteten Pilze auflas und sie zwischen die übrigen mischte?« Das war eine Feststellung, keine Frage. Großer Gott, sie wußte alles über mich.
Lange schwieg ich, ungewiß, was sie von mir hören wollte. Hoffte sie, daß ich zusammenbrach?
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