Der Rattenzauber
Daß ich flehte und weinte und um Vergebung bat? Diesen Gefallen würde ich ihr nicht tun.
Schließlich sagte ich: »Dann bist du wirklich Juliane. Du bist nie gestorben.«
»Deine Schwester starb«, widersprach sie voller Sanftmut. »Juliane ist tot. Ich bin Julia. Ich bin Margarete Gruelhot. Ich bin nichts als eine Tochter des Herrn, zum Schweigen verdammt, gefangen in diesen Mauern.«
»Du bist unsichtbar. Ich sah dich nicht im Keller, und ich sehe dich auch jetzt nicht. Vielleicht gibt es dich gar nicht, vielleicht bist du eine Vision wie all die anderen.«
»Du kannst mich fühlen«, flüsterte sie, und plötzlich berührte etwas meine Hand. Wie ein warmer Windhauch strichen ihre Fingerspitzen über meine Haut. Ich hatte nicht bemerkt, daß sie näher gekommen war. Die Schwärze war so undurchdringlich wie die Tiefe eines stillen Sees, und Julia durchglitt sie mit der schlafwandlerischen Sicherheit einer Wassernixe, lautlos, atemlos, ein Wesen, dessen Anblick den Menschen auf ewig verwehrt bleiben muß. Sonst wird seine Schönheit vergehen und der Glaube verkümmern.
Wie es geschehen konnte? Weshalb ich mich nicht wehrte? Ich weiß es nicht. Der Wunsch dazu war in mir, wie kann ich das verleugnen. Er traf mich ohne Widerstand, sprengte den Kerker meines engen Selbst, zerbrach alle Ketten der Keuschheit. Ich geriet in doppelte Bedrängnis – von außen Julia, die meine Hand hielt und sich mir fordernd entgegenschob, bis ich ihren Leib an meinem spürte, und von innen der Zwang, ihr noch näher zu kommen und endlich von ihrer herrlichen Anmut zu kosten.
Sie zog mich zurück auf das harte Lager. Noch immer sah ich nichts von ihr, keine Züge, keine Formen. Und doch erlag ich ihrer Versuchung. Es war ein Schweben in der Finsternis, dem wir uns hingaben, ein berauschender Flug durch die Nacht, beherrscht von ihrer geschickten Führung. Der Dämon in mir, ein Janusgesicht: Als ich Furcht empfand, gab er ihr Gestalt und schürte meine Ängste. Nun aber lernte ich seine zweite, seine verborgene Seite kennen. Denn nicht allein das Übel hob er ins Überlebensgroße, auch die Wonne, mein Begehren, das Verlangen nach Julias vollendetem Leib. Nie hätte meine Leidenschaft größer, meine Liebesglut lodernder brennen können als im Zustand dieses Wahns, der sich selbst jetzt meines Geistes bemächtigte. Doch wie er mich bisher mit Fratzen bedrohte, hob er mich nun in den Himmel empor, höher, immer höher, dem Licht und der Lust und Verzückung entgegen. Ich ertastete, was ich nicht sah, schmeckte die Süße unserer Sünde. Wie hätte ich da zu denken vermocht? Wie das Gewicht unseres Tuns erwägen? Ich taumelte in meiner Blindheit, stammelte Schwüre, ließ meinen Geist Gedichte schmieden, doch als sie mir von den Lippen quollen, jauchzend, jubelnd, da waren sie nichts als verstörtes Gestammel, wirre Gesänge an die Schönheit einer Unsichtbaren.
Erst später, als wir reglos beieinander lagen, fragte ich sie noch einmal, wer sie war.
»Du weißt es doch längst«, sagte sie flüsternd.
Ich aber wußte nichts und fragte doch nicht länger.
KAPITEL 7
Ich verließ das Kloster auf demselben Weg, den ich gekommen war. Niemand begegnete mir, weder Mensch noch Traumgestalt. Ich zwängte mich durch das Dornengestrüpp im Klostergarten, erklomm die Mauer und sprang von ihrer Krone zurück in die Wirklichkeit.
Erster Morgendämmer schwoll über den Giebeln zu einer grauen Glocke, als ich die Hintertreppe der Herberge hinaufstieg und das Haus betrat. Maria wollte hinunter in den Schankraum gehen, als sie mich bemerkte. Sie schenkte mir einen merkwürdigen Blick, fragte aber nicht, weshalb meine Haut zerkratzt und die Kleidung beschmutzt war. Ich schloß mich in meiner Kammer ein, ließ mich aufs Bett fallen und schlief bis zum Mittag.
Später machte ich mich auf zum Marktplatz. Schon von weitem bemerkte ich, daß die Mysterienbühne mit großer Fertigkeit umgestaltet worden war. Die drei Kreuze standen noch immer im Zentrum der gewaltigen Kulissen, doch nun war auch der Rest der biblischen Landschaft weitgehend fertiggestellt. Die Kreuze, und mit ihnen der Berg Golgatha, nahmen das Mittelstück der neun Spielebenen ein. Rechts und links davon hatte man die Zwischenwände herausgenommen und den Raum für die Kreuzigung erweitert – wohl, um die zahllosen Darsteller unterzubringen. Im Stockwerk darüber hatte man Wolken aus Holz angebracht, in ihrer Mitte stand ein mächtiger Thron. Hier oben würde
Weitere Kostenlose Bücher