Der Rattenzauber
aus ihren schwarzen Augen. Es gelang mir, eine zu ergreifen und in hohem Bogen über die Köpfe der Wächter auf die andere Seite der Kapelle zu schleudern. Unter Gekreische und Getöse fiel das strampelnde Tier dort in den Schlamm. Sogleich wurden die Wachtposten aufmerksam, griffen nach ihren Keulen und Messern und eilten in die Richtung, aus der das Kreischen der Ratte an ihre Ohren drang. Der dritte Wächter sprang ebenfalls ins Freie und folgte seinen Gefährten bis zu den nächstgelegenen Mauern, hinter denen die beiden anderen verschwunden waren. Dort blieb er stehen und starrte ins Dunkel. Alle drei waren schlichte Gemüter. Dies kam mir nun zugute.
Ich bewältigte die wenigen Schritte von meinem Versteck bis zur Seitenwand der Kapelle innerhalb weniger Herzschläge. Dort drückte ich mich flach an die Mauer, schob mich bis zur Vorderseite und wagte einen Blick um die Ecke zum Portal. Der dritte Wächter unterhielt sich nun mit den beiden anderen, die unsichtbar in der Finsternis hantierten.
Ich wagte alles, huschte um die Ecke bis zum Tor und durch den Spalt ins Innere. Niemand bemerkte mich. Allerdings hörte ich noch im gleichen Moment, wie sich die Schritte der drei wieder näherten. Die Ratte hatte sie weniger lange beschäftigt, als ich gehofft hatte. Ich sah mich angestrengt um und bemerkte vor dem Altar eine hölzerne Falltür. Ich öffnete sie, hörte zugleich, wie jemand von außen gegen das Portal drückte, glitt mit stockendem Atem hinab in die Tiefe und zog die Falltür hinter mir zu. Vor mir führten steinerne Stufen tiefer hinab in die Krypta. Ich verharrte eine Weile und wartete, ob man mein Eindringen bemerkt hatte. Niemand kam. Doch selbst, wenn keiner mich gesehen hatte, war ich fürs erste gefangen. Die Wächter waren wieder auf ihren Posten. Mit ihnen würde ich mich später wieder befassen müssen. Erst einmal war ich am Ziel.
Es war nicht so dunkel hier unten, wie ich angstvoll erwartet hatte. Zahllose Kerzen brannten an den Wänden einer unterirdischen Halle, die in keinem Verhältnis zu der kleinen Kirche darüber stand. Die Ausmaße der Krypta übertrafen die der Kapelle um ein Vielfaches. Mich überraschte, daß hier unten kein Wasser eingedrungen war; offenbar hatte man Boden und Wände sorgsam mit Lehm oder Harz abgedichtet. Trotzdem bemerkte ich einige Ratten, die durch die Halle jagten. Mochte der Teufel wissen, wie sie hereingelangt waren.
Jemand mußte regelmäßig darauf achtgeben, daß die vielen Kerzen nicht erloschen. Wahrscheinlich kam einer der Wächter in bestimmten Abständen her und machte sich daran, sie zu erneuern. Ich sah, daß einige kaum höher als ein Fingerbreit waren. Es stand zu befürchten, daß schon bald jemand nach den Kerzen sehen würde. Bis dahin mußte ich mir eine Möglichkeit zur Flucht zurechtgelegt haben.
Erst einmal aber stieg ich die Stufen hinab bis zum Grund der Halle. Zu meiner Enttäuschung war sie vollkommen leer. Die Kerzenflammen erhellten ein prächtiges Wandgemälde, das rund um den ganzen Raum verlief. Zahlreiche Kinder waren darauf abgebildet, die durch ein Stadttor einem Mann mit spitzer Mütze und Flöte folgten – der Rattenfänger. Im Hintergrund stand ein König mit seinem Gefolge und betrachtete den Auszug wohlwollend. Vor ihm tanzte eine junge Frau und hielt ein Tablett mit einem abgeschlagenen Kopf in Händen. Salome mit dem Schädel des Täufers. Dann mußte der König Herodes sein. In welcher Beziehung aber standen sie zu den Kindern Hamelns? Oder war dies gar ein ganz anderer Ort? Ich untersuchte den Hintergrund des Gemäldes genauer und entdeckte unter den Häusern der Stadt einen Stall mit Krippe. Darüber schwebten die Engel des Herrn. Also war dies Bethlehem, das Dorf, in dem der Heiland zur Welt gekommen war. Die Künstler, die das Bild geschaffen hatten, hatten Herodes’ Kindermord mit der Legende vom Rattenfänger gleichgesetzt.
Was hatte Maria gemeint, als sie sagte, daß sich ein Teil des Rätsels hier für mich lösen würde? Meinte sie das Gemälde? Sollte es mir Aufschluß über die Ereignisse geben?
Ich betrachtete den Raum genauer. Die Decke war aus schmucklosem Granit, der Boden bestand aus Steinplatten mit einer Kantenlänge von einem oder anderthalb Schritt. Ich schätzte, daß sich ein gutes Dutzend Ratten hier unten aufhielt. Ich fragte mich, wovon sie sich ernährten. Vielleicht fraßen sie einfach einander auf.
Aufmerksam durchschritt ich die Halle, betrachtete das gesamte Gemälde und wurde
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