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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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auf den Grund zu gehen. Wie hätte ich da selbst zum Mörder werden können? Doch je länger ich über die Gnade meines Herrn nachdachte, desto unwahrscheinlicher schien mir, daß der Probst einem Treffen zustimmen würde. Zu groß war für ihn die Gefahr, sich selbst durch meine Aussage zu belasten.
    Da kam mir ein Einfall. Maria wußte, wo ich den gestrigen Tag verbracht hatte. Sie kannte mein Versteck, hatte mich selbst dort aufgesucht. Sie allein konnte meine Unschuld bezeugen.
    Ich hämmerte gegen die schwere Verliestür, bis einer der Wächter durch eine schmale Durchreiche im Holz zu mir hereinsah. Ich bat ihn, er möge zum Probst eilen und in meinem Namen eine Begegnung mit Maria, der Enkelin der Wirtin, erflehen. Der Kerkerknecht brummte eine unverständliche Erwiderung und schloß das Türloch.
    Ich hätte schreien mögen vor Verzweiflung. Niemals würde meine Botschaft bis zum Probst gelangen.
    Doch ich täuschte mich.
    Am Morgen erhielt ich Besuch.
    ***
    Maria wirkte krank und übermüdet. Sie hatte ihren Kapuzenmantel eng um den Körper geschlungen, als könne sie damit die begehrlichen Blicke der beiden Wächter abwehren. Durch das schmale Kerkerfenster fiel nur spärliches Licht und die Fackel, die einer der Kerle hielt, brannte hinter Marias Rücken, so daß ihr Gesicht fast im Dunkeln lag. Ihr langes Haar war zerzaust, unter ihren Augen schwollen dunkle Ringen. Hatte man sie geschlagen? Blickte sie deshalb so gequält? Nein, es mußte mein eigener Zustand sein, der sie in solche Verzweiflung trieb. Als sie an von Wetteraus Seite eintrat, spiegelte sich für einen winzigen Augenblick Licht in einer Träne auf ihrer Wange. Sie wischte sie eilig mit dem Ärmel ab und behielt sich fortan eisern im Griff. Kein Schluchzen, kein Jammern, kein Weinen. Sie ertrug die Lage mit aller Kraft und Ruhe.
    Von Wetterau hatte gleichfalls einen Mantel übergeworfen, aus wertvollem, dunkelrotem Stoff. Er trug prunkvolle Kleidung, wie es sich zum Besuch des Bischofs geziemte. Er musterte mich mit seltsamer Miene, halb mitleidig, halb abgestoßen. Bei aller Feindschaft, die er mir nun entgegenbringen mochte, mußte ich ihm Marias Anwesenheit hoch anrechnen. Es war unüblich, die Wünsche eines Gefangenen, falls überhaupt, so eilig zu erfüllen.
    Ich erwartete, daß Maria nach meinem Befinden fragen würde, doch sie sprach kein Wort, so lange man sie nicht direkt ansprach.
    »Ihr seid ein Mörder, Robert von Thalstein«, sagte der Probst. »Ihr habt als Kind Eure Eltern vergiftet, und nun habt Ihr unsere Kinder gemordet.«
    Ich schüttelte matt den Kopf. Meine Kleidung stank nach Schmutz und Schweiß, ich fühlte mich elend. »Ihr wißt, daß das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Es war ein unglückliches Versehen, daß meine Familie starb. Ich wußte nicht, daß die Pilze giftig waren. Wollt Ihr mir allen Ernstes vorwerfen, ich hätte es mit Absicht getan? Als achtjähriges Kind?«
    »Ihr seid krank, Ritter«, entgegnete von Wetterau, als sei das Erklärung genug, mir allein alle Schuld zu geben. »Ich ahnte es, als Ihr in die Stadt kamt und man mir berichtete, was mit Eurer Familie geschah. Ich behandelte Euch mit Respekt, weihte Euch gar in meine Untersuchungen ein, um mich dem Herzog gefällig zu zeigen. Ihr schient mir weit weniger gefährlich, als jedermann behauptete. Selbst als der lahme Junge ermordet wurde, ließ ich Euch frei, weil ich glaubte, nicht einmal ein verwirrter Geist könne so offensichtliche Spuren hinterlassen. Ich nahm sogar an, man wolle Euch fälschlich die Schuld zuweisen.« Er holte tief Luft, als fiele es ihm schwer, das eigene Versagen einzugestehen. »Als aber gestern zwei weitere Kinder in ihrem Blut gefunden wurden, da begriff ich, welche Gefahr Ihr für Eure Nächsten bedeutet. Die Suche nach den verschwundenen Kindern hat Euch in den Wahnsinn getrieben, Ritter. Äbtissin Waldrada berichtete mir von Eurem Zusammenbruch im Kloster, die Wirtin Eurer Herberge sprach von seltsamem Verhalten und Wutausbrüchen. Ich bin nicht sicher, ob Ihr selbst wißt, wie es um Euch steht. Ich werde Euch deshalb die Folter ersparen, denn nicht einmal Schmerzen können einem Kranken ein Geständnis entlocken, der nicht um seine Krankheit weiß. Ich habe Mitleid mit Euch, Ritter Robert. Und ich fürchte Euch.«
    Was sollte ich tun? Widersprechen? Hatte nicht schon der alte Hollbeck behauptet, ich litte an einer Krankheit? Hatte ich nicht selbst bereits an meinem Verstand gezweifelt? Ich erinnerte mich

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