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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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einzelne. Alle tot. Verbrannt. Verfault. Zerfleischt.
    Irgendwann wurde die Falltür aufgerissen, und mehrere Gestalten sprangen die Stufen hinab in die Krypta. Einige krümmten sich in dem entsetzlichen Gestank, den ich selbst kaum mehr wahrnahm. Durch Wogen aus Staub sah ich, wie sie mit blanken Waffen auf mich zuliefen, spürte, wie sie mich packten und über die Treppe nach oben zerrten. Mit ihnen strömten Dutzende von Ratten aus der Falltür, manch einer trat danach, doch die meisten Männer verhielten sich still und ließen die Tiere entkommen, wußten sie doch, was sich in ihren Bäuchen befand.
    Die Kapelle war voller Bewaffneter, Knechte der Stiftsherren und Wachen des Stadtrats. Die drei Posten mußten die Geräusche in der Krypta gehört und gleich Alarm geschlagen haben. Vielleicht glaubten sie, die toten Kinder erhöben sich aus ihren Gräbern, vielleicht fürchteten sie den Zorn und die Rache der Toten. Welche Erleichterung mußte es für sie gewesen sein, daß nur ich es war, der sich dort unten wie ein Teufel gebärdete, schreiend, taumelnd, vom Wahnsinn geschüttelt.
    Man zerrte mich ins Freie. Draußen wartete von Wetterau. Der Probst schenkte mir einen langen, traurigen Blick. »In den Kerker mit ihm!« befahl er schließlich.
    Ich lachte ihm lauthals ins Gesicht. »Wollt Ihr mich endlich zum Schweigen bringen? Weil ich doch noch fand, was ich suchte?«
    Von Wetterau hatte sich bereits abgewandt, doch nun drehte er sich noch einmal zu mir um. Erstaunen lag in seinen Zügen. Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich wußte, daß Ihr sie früher oder später entdecken würdet. Glaubt Ihr denn, ich ließe Euch deshalb verhaften?«
    »Warum sonst?« schrie ich ihm entgegen.
    Der Probst sah mich mitleidig, dann wütend an. »Ihr habt gemordet, Robert von Thalstein. Erneut. Und nicht nur einmal. Gleich zwei Kinder starben heute unter Eurer Klinge. Ihr braucht es nicht abzustreiten. Wir kennen Euch längst, teurer Ritter. Wir kennen Euch nur zu gut.«
      
      
      

    KAPITEL 8
    Man mag sich meine Verstörung, meine Wut und Verzweiflung vorstellen. Sie warfen mich in ein feuchtes Loch unter dem Rathaus, halb unterirdisch, begrenzt von nacktem, feuchtem Stein. Die Decke war so niedrig, daß ich eben noch aufrecht stehen konnte, und in einer Ecke lag ein grober, mit Stroh gefüllter Sack als Schlaflager. Es gab ein schmales, eng vergittertes Fenster, durch das ich – welch grausamer Hohn! – gute Aussicht auf den Marktplatz und die Mysterienbühne hatte. Vielleicht glaubte man, die Aufführung würde meiner sündigen Seele Frieden bringen.
    Es war immer noch Nacht, und auf dem Markt brannten zahllose Fackeln. Die Arbeiten an der Bühne gingen weiter ohne Unterlaß. Ich hatte mich getäuscht: Von Wetterau ließ seine Männer bis zum Morgen durcharbeiten.
    Im Verlies stank es erbärmlich nach menschlichem Abfall, nach feuchtem Stein und Pilzbefall. Es mochte in den Gewölben noch drei oder vier weitere Kerkerkammern geben, nicht mehr. Der Weg herunter führte durch einen düsteren, von Fackellicht beschienenen Raum, in dem sich eine stattliche Sammlung von Marterwerkzeugen befand. Die stämmigen Wächter in ihren ledernen Schürzen sahen aus, als vermochten sie gut damit umzugehen.
    Bisher hatte man mir kein Leid zugefügt, gewiß auf von Wetteraus Befehl. Den Mienen der Knechte und Bürger war anzusehen, daß sie mir am liebsten gleich den Garaus gemacht hätten. Doch der Probst hatte andere Pläne. Vielleicht pochte er auf eine Anhörung nach dem Spiel. Möglicherweise wollte er mich gar dem Herzog vorführen. Mein Herr würde mich retten, würde mich freisprechen von jedem Verdacht und den Probst für seine Dreistigkeit bestrafen. Doch konnte von Wetterau das wagen? Was, wenn ich dem Herzog von den Kindergräbern in der Krypta berichtete? Wie wollte der Probst das verhindern?
    Zwei weitere Kinder waren ermordet worden – beide, wie schon der lahme Junge, von körperlichen Gebrechen geplagt. Fraglos war ihr Leiden der Grund, daß sie nicht schon länger das Schicksal der übrigen Kinder teilten. Ihre Mißbildungen mußten sie davor bewahrt haben, schon vor drei Monden zu sterben. Doch wer ging nun um und mordete die Überlebenden? Und weshalb?
    Warum nutzte er dazu meinen Dolch und hinterließ dabei das Wappen Heinrichs?
    Schwermut überkam mich in heftigem Schwall, das drohende Unheil machte mich rasend. Der Herzog mußte mir glauben. Er hatte mich nach Hameln geschickt, um dem Verschwinden der Kinder

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