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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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bedeutete, daß wir mindestens noch eine weitere Straße überqueren mußten, jene vom Marktplatz zum Osttor. Über sie war ich vor scheinbar zahllosen Tagen in Hameln eingeritten, ahnungslos und blind angesichts der Schrecken, die meiner harrten. Was war geblieben von meinem Ritterstolz? Alles, was mich jetzt noch aufrecht hielt, war die Hoffnung auf die baldige Ankunft des Herzogs. Und dann? Sollte ich mich unter seinem Mantel verkriechen? Meine Hoffnungslosigkeit beschämte mich.
    Auch auf der Oststraße patrouillierten bewaffnete Männer. Ein halbes Dutzend zog gen Rathaus an uns vorüber, während wir uns hinter einer Mauer versteckten. Ich fragte mich, weshalb sie nicht in einer Treibjagd das ganze Gelände durchkämmten. Es dauerte eine Weile, ehe ich auf die Antwort kam: Morgen stand die Ankunft von Bischof und Herzog bevor, und noch waren letzte Arbeiten an der Bühne zu vollenden. Man konnte es sich nicht leisten, alle Männer die Nacht über auf den Beinen zu halten, denn damit bestand die Gefahr, daß die Bühne nicht rechtzeitig fertig wurde. Den Stadtvätern blieb keine andere Wahl, als lediglich kleine Gruppen für die Suche nach mir abzustellen. Vielleicht glaubten sie auch, ich hätte mich längst davongemacht. Ich fragte mich, wie von Wetterau über die Ereignisse denken mochte. Er war ein kluger, weltgewandter Mann und zumindest am Vortag von meiner Unschuld am Tod des Kindes überzeugt gewesen. Duldete er nun, daß man mich als Mörder jagte? Oder wußte er überhaupt nichts davon?
    »Kommt, es ist nicht mehr weit«, flüsterte Maria mir zu und beschleunigte ihre Schritte. Dann, plötzlich, blieb sie stehen.
    Ich erkannte sogleich den Grund ihrer Vorsicht. Vor uns ragte eine kleine Kapelle aus den Ruinen, selbst nicht viel größer als die höchsten Mauern, die sie umgaben, doch schien sie weitgehend fertiggestellt. Der Bau war schlicht und schmucklos, allein der niedrige Spitzturm und ein Kreuz über dem Tor zeichneten ihn als Haus Gottes aus. Vor dem zweiflügeligen Eingang standen zwei Wachtposten. Die Tür war einen Spalt weit geöffnet, dahinter glühte Kerzenschein. Einer der Wächter sagte etwas, und aus dem Inneren antwortete ihm eine männliche Stimme. Sie waren also zumindest zu dritt.
    »Dort hinein?« fragte ich leise.
    Maria nickte stumm.
    »Was erwartet uns dort?« wollte ich wissen.
    »Nicht uns – nur Euch allein. Ich verlasse Euch hier. Dringt in die Kapelle ein, steigt hinab in die Krypta. Dort findet ihr eine Antwort auf Eure Fragen.«
    »Was ist mit dir?« fragte ich.
    Sie senkte betreten den Blick. »Ich werde zurückgehen zu meiner Großmutter und so tun, als habe es diese Nacht nie gegeben. Erwartet keine weitere Unterstützung von mir. Ich bin schon viel weiter gegangen, als ich je gedurft hätte. Seht, was Ihr in der Krypta findet, und tut mit Eurem Wissen, was ihr wollt. Verlaßt die Stadt, reitet davon – oder bleibt. Wie es Euch beliebt.«
    Damit drehte sie sich um und wollte gehen.
    »Warte«, bat ich.
    »Ich verlange keinen Abschiedskuß, mein Ritter«, sagte sie traurig. »Ich weiß, daß Ihr mir dankt. Belaßt es einfach dabei.«
    Ich wollte ihr die Hand drücken, doch sie entwand sich meinem Griff und huschte davon. Ich blieb allein zurück.
    Etwas raschelte zu meinen Füßen. Angewidert bemerkte ich, daß es eine Ratte war, die an meinem Stiefel nagte. Ich trat nach ihr, und sie wieselte im Dunkeln davon. Dann zog ich meinen Dolch und begann, die Kapelle in gebührendem Abstand zu umrunden. Das Gebäude maß etwa acht mal vier Mannslängen. Es besaß nur den einen, bewachten Eingang und zwei Fenster, die man mit grobem, gelben Glas versiegelt hatte. Ich fragte mich, weshalb man die Wächter hier postiert hatte. Sicherlich nicht wegen mir; niemand konnte damit rechnen, daß ich den Weg hierher finden würde. Demnach mußte sich in der Tat etwas von Wichtigkeit in dem bescheidenen Gotteshaus befinden.
    Nachdem ich die Kapelle von allen Seiten betrachtet hatte, kam ich zu dem leidigen Entschluß, daß ich die Wächter wohl oder übel überwinden mußte. Rund um das Gebäude gab es keine weiteren Posten, es blieb bei diesen dreien. Zweifellos genug, um einem verletzten, erschöpften Mann wie mir den Garaus zu machen. Mir blieb nur, sie durch einen Trick fortzulocken und so ins Innere zu gelangen.
    Gehetzt ließ ich meinen Blick über den Boden schweifen. Es dauerte nicht lange, da fand ich, was ich suchte. Zwei Ratten kauerten in den Schatten und beobachteten mich

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