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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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doch immer wieder vom Wimmeln der Tiere abgelenkt. Es schien mir eigenartig, daß die Hüter dieser Krypta zwar darauf achteten, daß die Kerzen nicht ausbrannten, zugleich aber zuließen, daß sich die Ratten hier unten tummelten und vermehrten. Es sei denn, es gab ein Schlupfloch für die häßlichen Nager. Vielleicht ein unterirdischer Gang, durch den auch ich von hier entkommen konnte.
    Nachdem ich die Einzelheiten des Gemäldes studiert und doch nichts Näheres über das Schicksal der Kinder erfahren hatte, folgte ich deshalb den Wegen der Ratten und bemerkte schließlich, daß sie in einer dunklen Öffnung am Rand einer Bodenplatte verschwanden. Diese Platte lag nahe der Treppe und war an einer Seite gesplittert, so daß ein faustgroßes Loch entstanden war. Dieses Loch diente den Tieren als Zugang zur Krypta, und zweifellos fanden sie hier auch Zuflucht vor den Wächtern. Vielleicht, so dachte ich, war dies der Einstieg zu einem Stollen.
    Ich machte mich daran, die Platte anzuheben. Dazu mußte ich mit den Fingern meiner Rechten in die Öffnung fassen, was ich nur mit Widerwillen über mich brachte. Zu meiner Verwunderung wagten sich die Ratten jedoch nicht an meine Hand.
    Die Platte war schwer, und meine größte Angst bestand darin, daß sie mir beim Heben entgleiten und zu Boden krachen könnte. Zweifellos wären sofort die Wächter zur Stelle gewesen. Doch es gelang mir, die Platte an der gesplitterten Seite hochzuziehen und wie den Deckel eines Buches aufzuklappen. Mit aller Sorgfalt ließ ich sie auf der anderen Seite niedersinken, ohne daß ein verräterischer Laut entstand. Dann blickte ich in die Öffnung. Mein Herz setzte aus. Nur mit Mühe unterdrückte ich den Schrei, der mir in der Kehle brannte.
    Ich blickte in eine Grube, die in Länge und Breite den Maßen der Platte entsprach. Mit ausgestrecktem Arm hätte ich den Boden berühren können. Es war kein geheimer Eingang zu einem Stollen, keine versteckte Kellerkammer.
    Es war ein Grab. Und darin lag eine Leiche.
    Die Leiche eines Kindes.
    Das Fleisch war pechschwarz, als habe es in einem Feuer geschmort, der Brustkorb zerfetzt von Rattenbissen. Darunter suhlten sich die Tiere in faulem Gedärm. Der Gestank, der mir entgegenschlug, war teuflisch. Weite Teile der Leiche waren kaum mehr als blankes Gebein.
    In den Seitenwänden des Grabes klafften Löcher, die sich die Ratten mit scharfen Krallen gegraben hatten. Offenbar, um in angrenzende Grabkammern zu gelangen.
    Wie rasend blickte ich durch die Krypta. Zählte die Bodenplatten. Ich kam bis zur Hälfte, verdoppelte die Zahl. Es waren hundertdreißig. Vielleicht eine mehr oder weniger.
    Unter jeder Platte mußte eine Leiche liegen. Die Leiche eines der verschwundenen Kinder. Sie waren alle hier. Keines hatte die Stadt je verlassen.
    Immer noch sagte mir etwas in meinem Inneren, daß es nicht sein konnte, nicht sein durfte. Ich zerrte an der Platte neben jener, die ich bereits geöffnet hatte. Ich hatte sie kaum einen Spaltbreit gehoben, da strömte bereits ein halbes Dutzend Ratten aus der Öffnung. Und dann bot sich mir der gleiche Anblick wie beim ersten Grab. Ein totes Kind, verfallen, halb aufgefressen, der Rest schwarz verfärbt. Als hätte der Körper in einem Feuer gelegen.
    Dantes Worte fielen mir ein. Der Rattenfänger habe die Kinder in die Feuer der Hölle geführt.
    Und es bestand kein Zweifel: Die Körper waren verbrannt.
    Ich keuchte, ich weinte, ich raufte mir das Haar. Ich hatte die Kinder gefunden. Endlich. Doch die Wahrheit war so vielfach entsetzlicher, als ich erwartet hatte. Nicht die Erkenntnis, daß die Kinder tot waren, drohte mir schier die Sinne zu rauben; das hatte ich längst geahnt, denn niemand hatte es abgestritten. Doch daß ich selbst ihre Leichen finden würde, halb zerfleischt von Rattenrudeln, das war mehr, als ich in diesem Augenblick ertragen konnte.
    Die Tiere hatten die Gräber durch ein Labyrinth von Gängen miteinander verbunden. Ich wagte mir kaum vorzustellen, wie viele von ihnen sich noch unter den Platten befinden mochten, reißend, nagend, beißend. Es mußten Hunderte sein.
    Ich öffnete noch zwei Gräber, ohne jedoch auf den Lärm zu achten, den ich dabei verursachte. Die Platten krachten zur Seite, eine splitterte. Unzählige schwarze Körper rasten um meine Füße, aufgeschreckt aus ihrem Fraß, die spitzen Schnauzen verschmiert, die Wänste fett, die Krallen stumpf vom Schaben an totem Gebein.
    Ich hatte die Kinder gefunden. Hier waren sie. Jedes

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