Der Rattenzauber
an das Blut an meinen Händen und an meiner Kleidung. Stets hatte ich geschlafen, als die Morde an den Kindern geschahen. Oder glaubte ich nur zu schlafen?
»Ihr maßt Euch an, über mich zu richten, von Wetterau?« fragte ich voll triefender Häme. »Ihr, der ihr den Tod von hundertdreißig Kindern verheimlicht?«
Er fuhr zusammen. Die Worte trafen ihn tief. »Ich habe ihren Tod nie verschwiegen. Erinnert Euch, Ritter: Sprach ich nicht gleich von meinem Verdacht, sie seien ums Leben gekommen?«
»Ihr schobt den Verdacht auf Eure eigene Schwester«, verbesserte ich ihn entrüstet.
»Für sie hätte es keine Folgen gehabt«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Jeder hier weiß, daß der Tod der Kinder von Gott gewollt war. Sie starben, während sie ihm seine Ehre erwiesen.«
»Wie starben sie, von Wetterau?« fragte ich. »Warum sagt Ihr nicht endlich die Wahrheit?«
Der Probst bemerkte, daß Maria ihn unverwandt anstarrte, und schüttelte den Kopf. Statt einer Antwort sagte er: »Ich habe Euch das Mädchen gebracht, nach dem Ihr verlangt habt. Das sollte Euch beweisen, daß ich nicht gedenke, Euch zu hintergehen.«
»Dann führt mich dem Herzog vor.«
»Ihr wißt, daß das unmöglich ist.«
»Er weiß, daß ich in Hameln bin. Er wird mit mir sprechen wollen.«
»Wir werden sehen«, sagte der Probst und wandte sich an Maria. »Weißt du, mein Kind, was der Ritter von dir will?«
Sie senkte betroffen den Blick und schwieg. Von Wetterau sah es mit Verblüffung, dann drehte er sich zu mir um. »Sagt, warum Ihr sie sehen wolltet.«
»Maria«, begann ich, ohne den Probst weiter zu beachten. »Du mußt ihm sagen, daß du mich gestern getroffen hast. Du weißt, daß ich die Kinder nicht ermorden konnte. Du kanntest mein Versteck.«
Ihr Abschied fiel mir ein: Ich werde tun, als habe es diese Nacht nie gegeben.
Unmöglich. Das konnte sie nicht tun. Nicht sie.
Nach einem Augenblick des Zögerns brach Maria ihr Schweigen und sagte zu meiner Erleichterung: »Ihr habt Euch draußen in einem halbfertigen Haus verborgen. In einem Dachstuhl, oben im Gebälk.«
Der Probst starrte sie eindringlich an. »Hast du selbst ihn dort gesehen?«
»Ja.«
»Du warst dabei, als er sich dort versteckte?«
»Ja.«
»Und du bliebst während des ganzen Tages bei ihm?«
Sie sah erst mich, dann den Probst an. Ihr Blick war kläglich. Es schien, als wolle sie die Frage nicht beantworten, deshalb sagte von Wetterau: »Sprich, Kind. Bliebst du den Tag über bei ihm?«
»Nein«, erwiderte sie leise.
»Was tatest du statt dessen?«
»Ich führte sein Pferd hinauf zum Waldrand, so wie er es mir auftrug.«
»Weshalb?«
»Er ist … er war der Gast meiner Großmutter. Ich muß tun, was die Gäste befehlen.«
»War das der einzige Grund?«
»Ja.«
Wie konnte ich erwarten, daß sie ihre Liebe zu mir gestand? Ihre Liebe zu einem Mörder! Bei Gott, ich glaubte selbst schon an die Vorwürfe des Probstes.
»Und später gingst du zu ihm zurück?«
»Ja.«
Ihre knappen Entgegnungen erzürnten den Probst.
»Himmel, Mädchen, kannst du nicht von selbst den Mund aufmachen?«
»Ich …«, begann sie stockend, »ich sollte ihn im Schutze der Dunkelheit aus der Stadt führen.«
»Warum bist du nicht zum Rathaus oder zu mir gekommen und hast gesagt, wo er sich befindet?«
»Da wußte ich ja nicht, daß auch Ihr ihn sucht, Herr«, entgegnete sie eilig. »Er wurde von einer wilden Meute gejagt, aber doch noch nicht von Euren Soldaten. Wie sollte ich da Recht von Unrecht unterscheiden?«
Von Wetterau brummte etwas, sagte aber nichts dazu. Statt dessen fragte er: »Wie lange ließt du ihn allein?«
»Fast den ganzen Nachmittag.«
In meiner Verzweiflung wollte ich auffahren, ihr eine Lüge in den Mund legen. Sie sollte sagen, daß sie bei mir war, die ganze Zeit über, daß ich unmöglich fort gewesen sein konnte, um die Kinder zu ermorden. Doch wie konnte ich von diesem Mädchen, das schon so viel für mich gewagt hatte, verlangen, daß es jetzt gar den Probst belog? Es ging um mein Leben, gewiß, doch damit hätte sie auch das ihre aufs Spiel gesetzt.
Ich gab mich geschlagen. Wer auch immer die Morde unter dem Deckmantel meines Namens begangen hatte, er hatte gesiegt. Sein Ziel war erreicht.
Von Wetterau schenkte Maria noch einen letzten durchdringenden Blick, dann sagte er: »Du kannst gehen.« An die Wächter gewandt fügte er hinzu: »Bringt sie hinauf. Sie soll zurück zu ihrer Großmutter gehen und vergessen, was gewesen
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