Der rauchblaue Fluss (German Edition)
seinem Stil malte.
Ja, sagte ich, beides stimme. Nun wollte er wissen, ob ich vielleicht zufällig ein Gemälde von Mr. Chinnery kenne, das allgemein unter dem Titel »Porträt einer jungen eurasischen Dame« bekannt sei.
»Aber ja«, antwortete ich, »allerdings!« – Und das war die reine Wahrheit, denn ich kenne das Bild tatsächlich sehr gut. Von den in China entstandenen Werken Mr. Chinnerys ist es mir das liebste, und wie Du weißt, liebe Paggli, pflege ich seit Langem Kopien der Bilder anzufertigen, die mich besonders beeindrucken. Glücklicherweise hatte ich das auch in diesem Fall nicht versäumt. Es ist eine kleine, aber – wenn ich das von mir selbst sagen darf – absolut originalgetreue Kopie. Ich sehe sie vor mir, während ich diese Zeilen schreibe: Sie zeigt eine junge Frau in einer capeartigen Tunika aus blauer Seide und weiten weißen Hosen. Die kostbaren Kleidungsstücke werden lässig getragen, das Gesicht hat die zarten Konturen eines herzförmigen Blattes, und der Blick aus den erstaunlich großen schwarzen Augen ist sanft und zugleich direkt. Eine rosa Chrysantheme lugt aus dem schwarz glänzenden Haar hervor, das in der Mitte gescheitelt und hinten zusammengefasst ist, sodass es in anmutigem Schwung über die Schläfen fällt. Hinter der Frau sieht man als Rahmen im Rahmen ein rundes Fenster, das ihren Kopf hervorhebt und den Blick auf ferne nebelverhangene Berge freigibt. Jedes Detail des Raumes deutet auf ein chinesisches Interieur hin: die Form des Stuhls, auf dem die junge Frau sitzt, die quastenbesetze Laterne über ihr, das hochbeinige Teetischchen mit der Porzellankanne. Auch der Hautton des Gesichts und die Form der Wangenknochen sind eindeutig chinesisch geprägt, aber etwas am Lächeln der Frau und an ihrer Haltung verrät, dass sie irgendwie fremd ist, zumindest teilweise.
Es ist für mich eines von Mr. Chinnerys schönsten Werken, aber wie Du weißt, liebe Paggli, bin ich manchmal kein sehr unparteiischer Richter. Vielleicht rührt meine Vorliebe für das Bild von einer gewissen Sympathie für die junge Frau her – Adelina hieß sie – , nicht nur, weil sie wie ich gemischter Abstammung war, sondern auch, weil ich einiges über die Umstände ihres Lebens und Sterbens weiß (und wenn Du die Geschichte hörst, wirst auch Du sagen, dass es schlechterdings unmöglich ist, nicht davon ergriffen zu sein … ).
Jetzt wirst Du verstehen, dass mein Verhältnis zu dem Gemälde nicht mit normalen Maßstäben zu messen ist (es hat mich nicht wenig Zeit und Mühe gekostet, kann ich Dir sagen, Mr. Chinnerys Schülern die Geschichte zu entlocken), aber zum Glück besaß ich die Geistesgegenwart, Mr. Chan nicht zu verraten, wie vertraut es mir ist.
»Ich kenne das Bild«, sagte ich. »Warum fragen Sie?«
»Was meinen Sie, Mr. Chinnery, könnten Sie eine Kopie davon für mich anfertigen? Es soll Ihr Schaden nicht sein.«
Das brachte mich in eine gewisse Zwickmühle, denn mein Onkel würde außer sich sein, wenn er davon erfuhr – andererseits lebt Mr. Chan so zurückgezogen, dass ich nicht wüsste, wie er davon erfahren sollte. Zudem sind meine materiellen Umstände nicht dergestalt, dass ich es mir leisten könnte, Aufträge abzulehnen. Ich sagte also, ich würde es gern machen.
»Sehr gut, Mr. Chinnery«, sagte Mr. Chan. »Ich verlasse Kanton morgen und komme erst in vier Wochen wieder. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn die Kopie bei meiner Rückkehr fertig wäre. Ich zahle hundert Silberdollar.«
Mir blieb die Luft weg – denn das ist nur unwesentlich weniger, als mein Onkel selbst für ein Gemälde zu erwarten hätte – , aber Du wirst Dich freuen zu hören, dass ich trotz meiner Verblüffung nicht aus dem Auge verlor, was mich zu Mr. Chan geführt hatte. »Und was ist mit Mr. Penroses Bildern, Sir?«, fragte ich. »Und der Goldkamelie?«
»Ach, ja«, sagte er mehr als beiläufig. »Ich sehe mir die Bilder unterwegs an. Wir reden darüber, wenn wir uns in vier Wochen wiedersehen.«
Und damit, meine liebe Paggli-devi, war das Gespräch beendet.
Ich ging sogleich nach Hause und spannte eine Leinwand auf einen Rahmen. Doch als ich zu malen begann, merkte ich, dass die Sache nicht so einfach werden würde, wie ich gedacht hatte. Dieses ausnehmend feine Gesicht zu beschwören war, als würde ich Adelina von den Toten auferwecken. Ihr Geist begann mich zu verfolgen. Denn sie ist hier gestorben, hier in Kanton, in eben dem Fluss, den ich von meinem Fenster aus sehe, fast in
Weitere Kostenlose Bücher