Der rauchblaue Fluss (German Edition)
vielen Teestuben oder Garküchen führen, die in Kanton üblicherweise als Treffpunkt dienen – in der Thirteen Hong Street etwa oder irgendwo bei den Stadtmauern – , aber dem war nicht so: Ah-med schlug den Weg zum Fluss ein. Ich fragte mich, ob wir vielleicht wieder ein Boot nehmen würden, doch nein: Unser Ziel war Shamian!
Ich glaube, ich habe Shamian schon einmal erwähnt: Es ist eine Gezeiteninsel, die man nur sieht, wenn der Fluss wenig Wasser führt. Sie liegt am anderen Ende von Fanqui-Town, nicht weit vom dänischen Hong, und obwohl es nur eine Sandbank ist, genießt sie in der Stadt eine gewisse Berühmtheit, denn sie ist der bevorzugte Ankerplatz einiger der prächtigsten, buntesten »Blumenboote« Kantons. Auf einem von ihnen schien sich Mr. Chan mit mir treffen zu wollen, und das mitten am Vormittag!
Blumenboote gehören zu den größten – und definitiv farbenprächtigsten – Wasserfahrzeugen auf dem Perlfluss. Sähe man sie anderswo, hielte man sie für Trugbilder, so fantastisch sehen sie aus. Sie haben offene und geschlossene Pavillons, Säle und Terrassen, sie sind mit seidenen Draperien und Hunderten von Laternen geschmückt, und den Eingang bildet stets ein großes Tor, grellrot und golden bemalt und mit einem Bestiarium von Fabelwesen dekoriert: sich windende Drachen, grinsende Dämonen und mit Zähnen bewehrte Greife. Diese furchterregenden Kreaturen sollen jedem, der sich nähert, verkünden, dass jenseits des Portals eine Welt liegt, die himmelweit entfernt ist von der dumpfen Realität alltäglichen Erlebens. Nachts, wenn die Boote auf dem dunklen Fluss von Lichtern und Laternen erhellt sind, scheint jedes von ihnen tatsächlich zu einem schwimmenden Zauberreich zu werden. Aber es war, wie gesagt, mitten am Vormittag, und bei Tageslicht wirkten sie doch recht müde und melancholisch, mehr kitschig-bunt als farbenprächtig, klein gemacht von der Sonne und bereit, ihre Niederlage im nicht zu gewinnenden Kampf gegen das Nüchtern-Alltägliche hinzunehmen.
Bei hohem Wasserstand ist Shamian nur per Boot zu erreichen, bei Niedrigwasser aber taucht wie durch Zauberei ein Ziegeldamm auf. Wir überquerten ihn zu Fuß, und Ah-med führte mich zu einem der größten Boote, die dort ankerten. Das goldene Portal war verschlossen, und auf Deck sah man nur eine Wäsche waschende ältere Frau. Auf einen Zuruf Ah-meds erhob sie sich, und gleich darauf ging das Tor knarrend auf. Ich trat ein und fand mich in einem Salon wieder, in dem ein Durcheinander herrschte wie auf einem Rummelplatz nach einer langen Nacht. Der Boden war mit Teppichen bedeckt, die Möbel waren mit kunstvollen Holzschnitzereien verziert. An den Wänden hingen Rollbilder mit kalligrafischen Schriftzeichen und traumartigen Landschaften. Die Fensterläden waren geschlossen, und der Raum war rauchgeschwängert – von Tabak, Räucherwerk und Opium.
Nahezu ohne stehen zu bleiben führte Ah-med mich durch den Salon ins Innere des Schiffes. Vor uns lag ein Flur mit Kabinen links und rechts, aber die Türen waren sämtlich geschlossen, und außer einem gelegentlichen Schnarchen war kein Laut zu vernehmen. Wir kamen an eine dunkle Treppe, und Ah-med blieb stehen und bedeutete mir hinaufzugehen.
Mir war inzwischen einigermaßen beklommen zumute, und da ich nicht wusste, was mich erwartete, stieg ich sehr vorsichtig hinauf. Ich gelangte auf eine sonnenbeschienene Terrasse, auf der Mr. Chan in den Kissen einer Couch lehnte. Wie beim ersten Mal trug er chinesische Kleidung – ein graues Gewand und eine schwarze Kappe – , begrüßte mich jedoch nicht nach Art der Himmlischen, sondern ausgesprochen englisch mit einem Händedruck und einem lauten »Hallo!«. Er zeigte auf einen Stuhl neben dem Sofa und schenkte mir eine Tasse Tee ein. Es tue ihm leid, sagte er, dass seit unserer letzten Begegnung so viel Zeit vergangen sei, aber die Umstände hätten ihn gezwungen, sehr viel zu reisen usw. usw.
Mr. Chan erweckt nicht den Eindruck, als plaudere er für sein Leben gern, und so übergab ich ihm in der ersten Gesprächspause Ellen Penroses Zeichnungen der Sammlung ihres Vaters. Zu meiner Überraschung öffnete er die Mappe gar nicht, sondern legte sie beiseite und sagte, er werde sich die Bilder später ansehen, zunächst wolle er etwas anderes mit mir besprechen.
Selbstverständlich, sagte ich, worauf er erklärte, ihm sei zu Ohren gekommen, dass ich nahe mit dem berühmten englischen Maler George Chinnery verwandt sei und auch selbst in
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