Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Sichtweite des Ateliers, das ihr Großvater gegründet hat (es steht heute noch, in der Old China Street). Auch das habe ich mit Adelina gemein: Sie entstammte wie ich einer Künstlerfamilie. Ihr Großvater war einer der bedeutendsten Vertreter der Kantoner Schule, Chitqua hieß er, und er war in jeder Hinsicht ein Pionier. Noch in seinen Dreißigern – 1770, glaube ich – reiste er nach London, wo in der Royal Academy eine Ausstellung seiner Werke stattfand. Sie wurde zur Sensation, und überall, wo er hinkam, wurde er gefeiert. Zoffany malte ihn, und er wurde eingeladen, mit dem König und der Königin zu speisen. Seit Van Dyck war in London keinem ausländischen Maler mehr ein solcher Empfang zuteil geworden. Trotz seines großen Erfolges aber nahm sein Leben ein unrühmliches Ende. Bei seiner Rückkehr nach Kanton verliebte er sich in eine junge Frau niederer Abkunft, eine Schiffersfrau, sagen manche, andere behaupten, sie sei ein »Blumenmädchen« gewesen.
Chitqua war bereits Vater einer stattlichen Kinderschar, geboren von zahlreichen Frauen und Konkubinen. Gegen den erbitterten Widerstand seiner Verwandten, der nahen wie der entfernten, bestand er darauf, die neue Geliebte in seine Obhut zu nehmen. Sie gebar ihm einen Sohn, und diesen Jungen überschüttete er ebenso wie die Mutter mit seiner Liebe wie niemanden zuvor. Das weckte, wie Du Dir vorstellen kannst, viel Neid und auch große Besorgnisse hinsichtlich des Familienbesitzes. Ob diese Befürchtungen etwas mit Chitquas Tod zu tun hatten, ist nicht bekannt, doch als er nach einem Bankett plötzlich aufhörte zu atmen, mutmaßten viele hinter vorgehaltener Hand, er sei vergiftet worden. Am Ende jedenfalls blieben seine junge Geliebte und ihr Sohn mittellos und, von einer einzigen Dienerin abgesehen, allein auf der Welt zurück.
Der Sohn war von seinem Vater im Malen unterrichtet worden, und wären die Umstände seiner Geburt andere gewesen, wäre er zweifellos in eines von Kantons zahlreichen Ateliers aufgenommen worden. Aber die Künstler dieser Stadt sind eine durch Blutsbande verbundene verschworene Gemeinschaft und wollten den Jungen nicht in ihrer Mitte sehen. Er hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten in Fanqui-Town über Wasser und arbeitete als Illustrator für Botaniker und Sammler. Auf diese Weise, so erzählt man sich, wurde ein reicher Amerikaner auf sein Talent aufmerksam, ein Kaufmann, der ihn nach Macao brachte und ihm bei der Gründung eines eigenen Ateliers half. Dort nahm er auch den Namen an, unter dem er bekannt wurde: Alantsae.
Wie so oft bei außerehelich geborenen Kindern kam das Erbe seines Vaters in ihm zu voller Entfaltung, mehr als in jedem anderen von Chitquas Söhnen. Bald war er der gefeiertste Porträtmaler Macaos, und viele Ausländer – Kaufleute, Schiffskapitäne und natürlich die portugiesischen Beamten – bestellten Porträts bei ihm: von sich selbst, von ihren Kindern und – unnötig zu sagen – von ihren Ehefrauen. Nicht der Unbedeutendste unter diesen Stützen der Gesellschaft war ein Hidalgo von altem Geblüt und fortgeschrittenen Jahren, einer jener zirpenden Käfer, die in den staubigen Ritzen alter Reiche gedeihen und dank ihrer Beziehungen lebenslang an ihrem Posten kleben. Dieser vornehme Cavalheiro hatte vordem in Portugals asiatischer Metropole Goa gedient und dort eine Ehefrau verloren und eine andere gewonnen: Nachdem die erste von der Malaria dahingerafft worden war, hatte er ein sechzehnjähriges Mädchen geheiratet. Die Braut – fünfundfünfzig Jahre jünger als er – entstammte einer einst führenden Mischlingsfamilie, die einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Sie war nach allem, was man hört, eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit, eine Rose, könnte man sagen, und ihr Mann, hocherfreut, sich eine solche Trophäe ans Revers heften zu können, erteilte Alantsae den Auftrag, sie auf die Leinwand zu bannen, solange sie noch in der Blüte ihrer Jahre stand.
Diese Geschichte, liebe Paggli, fasziniert mich offen gestanden so sehr, dass ich die Beteiligten manchmal geradezu vor mir sehe: die schöne indoportugiesische Senhora und den hübschen, jungen chinesischen Maler, sie in ihrer Spitzenmantille, er im seidenen Gewand, dunkeläugig und langhaarig. Stell sie Dir bitte vor: die Kindbraut und der jugendliche Maler, sie Besitz eines Mannes, der nicht mehr imstande ist, die Ehe zu vollziehen, er zutiefst keusch. Siehst Du, wie ihre Blicke einander anziehen, unter den missbilligenden Augen der
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