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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Gewächshaus ein und reiße ein paar Sträucher heraus, halb in der Hoffnung, erwischt zu werden – und so kommt es auch. Man bringt mich bei einem Geistlichen unter, den ich bald noch mehr hasse als die Gärtner. Eines Nachts, als er über seinem Branntwein zusammengesackt ist, bediene ich mich aus seiner Börse und mache mich davon. Ich wandere nach Greenwich, immer den Lichtern des Rummelplatzes nach, und zum ersten Mal seit Monaten kann ich in einer Menschenmenge untertauchen. In einem Zelt wird getanzt, ich schlüpfe ungesehen hinein, und irgendwie werde ich in den Tanz hineingezogen, von Leuten, wie sie mir vertraut sind: Karrenschieber und Straßenhändler, Hausierer und Zigeuner. Sie wundern sich nicht, dass ich hier bin; bei Tagesanbruch überquere ich mit ihnen die Themse, und es ist, als ginge ich von Honam nach Guangzhou. In den Elendsquartieren Ostlondons erscheint mir alles vertraut: die überfüllten Hütten, die nackten Füße, der Unrat in den Straßen, der Duft gerösteter Kastanien, die feinen Pinkel in ihren Sänften, die verwahrlosten Gören. Es ist, als hätte ich, nachdem ich um die ganze Welt gesegelt bin, nach Hause gefunden …
    Was für eine Reise!
    Ist es nicht erstaunlich, liebe Paggli, dass wir, sobald wir anfangen, uns zu unserem breiten Weltwissen zu beglückwünschen, feststellen müssen, dass es in jedem Winkel der Erde Scharen von Menschen gibt, die ungleich mehr gesehen haben, als wir uns je erhoffen können?
    Ich weiß nicht, ob es an der betäubenden Wirkung des Opiums oder an Mr. Chans faszinierendem Bericht lag, aber als es Zeit wurde zu gehen, war ich wie erschlagen. Mr. Chan begleitete mich noch zu dem Sampan, und ehe ich mich’s versah, war ich wieder in Markwick’s Hotel. Es kam mir vor, als wären Wochen, ja, Monate vergangen, seit ich von dort aufgebrochen war, aber draußen war es noch heller Tag. In meinem Kopf drehte sich alles, und ich wollte mich gerade hinlegen, da schweifte mein Blick zu meinem Schreibtisch und blieb an Charlies Nachricht hängen. Das brachte mich wieder zu mir, und der geplante Ausflug zu dem Friedhof auf French Island fiel mir wieder ein.
    War Charlie schon losgefahren? Oder wartete er noch auf mich? In Panik spritzte ich mir rasch etwas Wasser ins Gesicht, dann rannte ich zu seinem Quartier im amerikanischen Hong. Und dort erfuhr ich zu meiner Verwunderung, dass er noch gar nicht wieder von einem morgendlichen Besuch zurück war! Er sei, sagte man mir, mit Mr. Wetmore, dem Präsidenten der Handelskammer, zu den Kaufleuten der Cohong gegangen, um ihnen ein Schreiben zu übergeben. Die beiden seien vor mehreren Stunden ins Consoo House eingelassen und seitdem nicht wieder gesehen worden.
    Du kannst Dir gar nicht vorstellen, meine liebe Paggli-hawa, in welche Sorge mich diese Berichte stürzten. Denn was konnte meinen Freund so lange dort festhalten? Hatte man ihn verhaftet? Und wenn ja, was legte man ihm zur Last?
    Ich begab mich eilends zum Consoo House, fand das Tor jedoch fest verschlossen. Niemand konnte mir etwas sagen, nur dass die Abgesandten noch in dem Gebäude seien.
    Oh! Was für ein Tag!
    Ich kehrte ins Hotel zurück, fest entschlossen, eine Stunde später erneut zum Consoo House zu gehen – aber offenbar hatte mich das Rauschgift noch im Griff, denn ich schlief tief und fest ein.
    Als ich heute Morgen aufwachte, ging ich sogleich zum amerikanischen Hong, wo man mir sagte, Charlie sei spät in der Nacht aus dem Consoo House entlassen worden und von dort direkt zu Mr. Wetmore gegangen. Erst bei Tagesanbruch sei er nach Hause gekommen, völlig erschöpft; im Moment schlafe er noch.
    Vergegenwärtige Dir also bitte, liebe Paggli, in welcher Verfassung ich diese Zeilen schreibe. In meinem Kopf herrscht ein solches Durcheinander, dass ich es verabsäumt habe, Dir eine sehr wichtige Neuigkeit mitzuteilen …
    … aber Moment, es klopft …
    An diesem Abend war es so voll im Klub, wie Bahram es noch nie erlebt hatte. Seit dem Morgen warteten alle gespannt darauf, aus Mr. Wetmores Mund zu hören, wie es der Delegation im Consoo House ergangen war. Jetzt war der Tag fast vorüber, nichts war verlautet, und zahlreiche Mitglieder hatten sich in der Kammer versammelt, in der Hoffnung, Mr. Wetmore werde zu seinem gewohnten Glas Punsch aus seiner selbst gewählten Klausur auftauchen.
    Doch die Stunde verstrich, und weder Mr. Wetmore noch irgendeiner der anderen Abgesandten ließ sich blicken; man erfuhr lediglich, dass Mr. Wetmore noch in der

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