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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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herzlichen »Sal mubarak!«.
    Einer der Gäste entstammte einer Priesterfamilie, und aus Hochachtung vor seiner Herkunft hatte Bahram ihn gebeten, die Gebete anzuführen und die Feier zu leiten. Er erfüllte diese Aufgaben erstaunlich gut und sprach die alten Texte so deutlich aus, dass selbst Bahram, der darin alles andere als bewandert war, einige Verse verstand: »… zad shekasteh baad ahreman – möge Ahriman geschlagen und besiegt werden!«
    Diese Passage hatte, so lange Bahram zurückdenken konnte, immer eine besondere Wirkung auf ihn ausgeübt, weil sie lebendiger als jede andere den Konflikt zwischen Gut und Böse beschwor. Heute flößten ihm die Worte eine so heftige Angst und Ehrfurcht ein, dass er zu zittern begann. Er schloss die Augen, und es war, als loderten die Flammen dieses Kampfes in seinem Kopf, ja, in seinem ganzen Körper. Seine Knie gaben nach, und er musste sich an einer Stuhllehne festhalten, um nicht zu fallen. Irgendwie schaffte er es, sich bis zum Ende der Zeremonie aufrecht zu halten, dann geleitete er die Gesellschaft eilig in den Speiseraum, der eigens für den Anlass geöffnet und geschmückt worden war.
    Jetzt gesellte sich auch Zadig dazu, der Nouruz schon viele Male im Achha Hong gefeiert hatte. Die vertraute Nähe des Freundes beruhigte Bahram, er wies ihm den Platz zu seiner Rechten an und tat ihm eigenhändig Mestos Speisen auf: verschiedene Fischarten, knusprig gebraten und im Blättermantel, jardalu ma gosht, goor per eeda – Eier auf Hammelmark – , vielerlei Kroketten, teils mit Tomatensoße, teils aus Lammhirn, außen knusprig und innen butterweich, Garnelenspießchen und Reismehl-rotis, khaheragi pulao mit Trockenfrüchten, Nüssen und Safran und vieles andere mehr. Rot- und Weißwein flossen das ganze Mahl über reichlich, und zum Abschluss servierte Mesto Gebäck, Puddings und süße Pfannkuchen mit Kokos. Er hatte sogar Joghurt herbeigeschafft, von den Tibetern am anderen Ufer des Flusses, und er servierte ihn mit Zucker und Gewürzen, fein bestäubt mit Muskat- und Zimtpulver.
    Später, als die Gäste gegangen waren, blieb Zadig noch auf ein Glas Tee im daftar.
    »Was für ein Festmahl, Bahram-bhai! Eines der schönsten, die ich unter Ihrem Dach erlebt habe – Sie hätten eine ganze Armee verköstigen können!«
    Nach den seltsam gemischten Gefühlen dieses Tages stimmte das Kompliment Bahram nachdenklich. Sein Blick schweifte zu dem kleinen Bild seiner Mutter an der Wand.
    »Wissen Sie, Zadig Bey«, sagte er versonnen, »als ich klein war, hatten wir manchmal nur ein paar Hirserotis im Haus. Wir hatten so wenig Geld, dass wir sogar das pagé trinken mussten, das Wasser, in dem meine Mutter den Reis gekocht hat. Oft haben wir den Reis nur mit rohen Zwiebeln und Chilis und vielleicht noch ein bisschen methiu gegessen. Ein- oder zweimal im Monat haben wir uns ein paar Stücke Trockenfisch geteilt, und das war dann ein Festessen für uns. Und jetzt … «
    Bahram brach ab und sah sich in seinem daftar um. »Ich wünschte, meine Mutter hätte das alles hier sehen können, Zadig Bey. Was sie wohl dazu gesagt hätte?«
    Zadig sah ihn mit einem leicht spöttischen Lächeln an. »Und was hätte sie gesagt, Bahram-bhai, wenn sie gewusst hätte, dass das alles dem Opium zu verdanken ist?«
    Er hatte die Frage scherzhaft gemeint, aber Bahram fühlte sich verletzt. Eine scharfe Antwort lag ihm auf der Zunge, doch er schluckte sie hinunter. Er stellte sein Teeglas ab und sagte mit ruhiger Stimme: »Ich werde Ihnen sagen, was sie gesagt hätte, Zadig Bey: Sie hätte gesagt, dass eine Lotosblume nur blühen kann, wenn sie im Schlamm wurzelt. Sie hätte begriffen, dass nicht das Opium an sich wichtig ist: Es ist nur Schlamm – was daraus wächst, das ist wichtig.«
    »Und was wird daraus wachsen, Bahram-bhai?«
    Bahram erwiderte den Blick des Freundes ruhig. »Die Zukunft, Zadig Bey«, sagte er, »die wird daraus wachsen. Wenn alles gut geht und meine Investitionen Gewinn abwerfen, kann ich einen neuen Weg einschlagen, für mich und vielleicht für uns alle.«
    »Was für einen Weg? Was meinen Sie?«
    »Verstehen Sie nicht, Zadig Bey? Wir leben in einer Welt, die wir nicht selbst geschaffen haben. Wenn wir die wenigen Möglichkeiten, die uns offenstehen, nicht nutzen, können wir nicht mithalten und werden schließlich aus dem Geschäft gedrängt. Wie so etwas anfängt, habe ich bei meinem Schwiegervater miterlebt, und ich werde nicht zulassen, dass mir das Gleiche

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