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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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lang erwartete Yum-chae – der kaiserliche Kommissar – ist vor einigen Tagen mit großem Tamtam hier eingetroffen (die ganze Stadt bekam zu diesem Anlass frei, wofür Jacqua und ich sehr dankbar waren, denn so konnten wir unseren künstlerischen Bestrebungen einen ganzen Tag widmen!). Offenbar ist der Kommissar mit dem ausdrücklichen Auftrag hierhergeschickt worden, dem Opiumhandel ein Ende zu setzen, und er scheint fest entschlossen, genau dies zu tun. Und wegen der Edikte, die er nun erlässt, legen sich die Mandarine und Polizisten neuerdings wesentlich mehr ins Zeug.
    Ob die Vorsichtsmaßnahmen auf unserer Fahrt etwas damit zu tun hatten, habe ich Ah-med nicht gefragt, weil mir von vornherein klar war, dass ich ohnehin keine ehrliche Antwort bekommen würde. Jedenfalls verließen wir das Deckshaus erst wieder, als unser Boot in die stillen Wasserläufe von Fa-Ti einbog – und jetzt sah ich, dass unser Ziel nicht, wie ich gedacht hatte, die Pearl River Nursery selbst war, sondern das ummauerte Anwesen, das sich in ihrem Innern verbirgt. Du erinnerst Dich vielleicht, dass ich geschrieben hatte, es gleiche einer Festung? An dieser Beschreibung würde ich kein Jota ändern, nur sah es jetzt aus wie eine belagerte Zitadelle, denn überall standen bewaffnete Posten.
    Wir näherten uns dem Gelände nicht zu Fuß, sondern vom Wasser her; an der Rückseite hat es einen eigenen versteckten Anlegesteg. Dort empfing uns ein Trupp grimmig dreinblickender Männer, die uns eilig zu dem großen roten Tor in der Mauer führten. Es war alles ziemlich seltsam und befremdlich, doch als das schwere Tor aufschwang, änderte sich das Bild.
    Nirgendwo sonst auf der Welt, vermute ich, misst man Portalen so große Bedeutung bei wie in China. In diesem Land sind Tore nicht einfach Ein- oder Ausgänge, sondern Durchgänge zwischen verschiedenen Daseinsbereichen. Wie schon an der Schwelle zu Punhyquas Garten überkam mich auch hier das Gefühl, ein Reich zu betreten, das auf einer anderen Ebene als der gewöhnlichen existiert.
    Vor uns lag ein Garten, nicht unähnlich dem Punhyquas: eine kunstvoll angelegte Landschaft aus Bächen und Brücken, Seen und Hügeln, Felsen und Wäldern, mit gewundenen Pfaden und wellenförmigen Mauern. Der Reiz dieser Gärten liegt zum Teil darin, dass sie die Jahreszeiten in ihrer Wirkung überhöhen. Ich hatte Punhyquas Garten im November gesehen, in die wehmütigen Farbtöne des Herbstes gehüllt, jetzt aber war Frühling und dies nirgendwo mehr als hier, Bäume und Pflanzen standen in leuchtender Blüte, und die Luft war von ihrem Duft geschwängert.
    Wäre ich allein gewesen, ich wäre mit Freuden stundenlang über die Pfade gewandert, aber Ah-med wich nicht von meiner Seite. Er führte mich geradewegs zu einem »Hügel«, auf dem etwas stand, was wie ein Pavillon aussah, erbaut aus einem überirdisch und durchsichtig wirkenden, lilafarbenen Material. Erst im Näherkommen erkannte ich, dass es eine riesige Glyzinie war, die sich über eine Art Pergola rankte. Die Blüten hingen in dichten Trauben herab und verströmten einen betäubend süßen Duft. In dem sonnengesprenkelten Schatten darunter standen Stühle, Teetische und einige lange Diwane. Auf einem von ihnen lag Mr. Chan in seinem üblichen Gewand.
    Ich dachte erst, er schliefe, doch als ich unter die Glyzinie trat, öffnete er die Augen und setzte sich auf.
    »Hallo, Mr. Chinnery, geht’s Ihnen gut?«
    Wieder standen seine Worte in seltsamem Kontrast zu seiner Umgebung, aber sie überraschten mich nicht mehr. »Danke, Mr. Chan«, antwortete ich. »Und Ihnen?«
    »Oh, ich kann nicht klagen, ich kann nicht klagen«, murmelte er wie ein rheumatischer Pensionär. »Und das Bild?«
    »Ich habe es dabei.«
    Ich hatte die Leinwand auf ihrem Rahmen gelassen und stellte sie nun auf einem Stuhl vor ihn hin.
    Der Augenblick, in dem man einem Kunden eine Auftragsarbeit präsentiert, ist immer mit Befürchtungen belastet: Ängstlich forscht man in seinem Gesicht und versucht seine Reaktion einzuschätzen, einen Hinweis auf seine Gefühle zu entdecken, ein Weicherwerden des Blicks etwa oder ein Lächeln. Mr. Chans Miene aber ließ nichts dergleichen erkennen; einen Moment lang glaubte ich, seine Augen blickten ein wenig schärfer, dann nickte er und bedeutete mir, auf einem der Diwane Platz zu nehmen. Er klatschte in die Hände, und kurz darauf erschien ein Diener und stellte ein mit einem Tuch bedecktes Tablett auf den Tisch neben ihm. Mr. Chan nahm das Tuch

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