Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Nacht und fast den ganzen Tag über geheime Unterredungen mit Mr. Fearon geführt hatte.
Diese Nachricht war nicht eben dazu angetan, Mr. Slades Stimmung zu heben. Mit wabbelnden Hängebacken tat er einen seiner kryptischen Aussprüche: »Nun, wenn unser Achilles in seinem Zelt schmollen will, dann geht das wohl nicht ohne seinen Patroklos.«
»Patroklos?« Bahram runzelte verwirrt die Stirn. »Was ist Patroklos? Ein Medikament, oder was?«
»Manche würden es wohl so nennen.«
»Und was ist mit Charlie King?«, fragte Bahram. »Warum ist er nicht hier? Nimmt er auch Patroklos?«
»Diese Möglichkeit«, antwortete Mr. Slade mit ernster Miene, »ist allerdings nicht von der Hand zu weisen. A bove maiori discit arare minor .«
»Baap-re! Was heißt denn das, John?«
»Vom älteren Ochsen lernt der jüngere pflügen.«
»Du lieber Himmel! Das ist ja nicht zu fassen! Die Zeit rennt uns davon, und die beackern sich? Wann läuft denn das Ultimatum des Kommissars ab?«
»In zwei Tagen«, sagte Mr. Slade. »Aber dass solche Erwägungen bei denen eine Rolle spielen, ist nicht zu erwarten – die Bulgaren sind berühmt dafür, dass sie nicht auf die Zeit achten, müssen Sie wissen.«
Das Abendessen wurde aufgetragen, die Tische wurden wieder abgeräumt, und noch immer hörte man nichts von Mr. Wetmore oder einem der anderen. Nachdem Bahram sich noch eine Weile bei einem Glas Portwein aufgehalten hatte, schien es ihm an der Zeit, sich zurückzuziehen.
Es war noch früh, und die anderen wunderten sich, als er Anstalten machte zu gehen.
»So früh zu Bett, Barry?«
»Sie gehen doch neuerdings nicht etwa mit den Hühnern schlafen?«
Bahram war bereits aufgestanden und antwortete mit einer Verbeugung. »Tut mir leid, meine Herren, aber heute muss ich früh Schluss machen. Morgen feiert meine Gemeinde ihr wichtigstes Fest – Nouruz nennen wir es. Es ist unser Neujahrsfest, und ich muss bei Tagesanbruch aufstehen.« Er blickte lächelnd in die Runde. »Es gibt natürlich auch ein burra-khana. Sie sind herzlich eingeladen, das Essen wird um zwölf serviert, in meiner Wohnung.«
Mr. Burnham und Mr. Slade wechselten einen Blick. »Vielen Dank, Barry.« Mr. Burnham rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Aber ich für mein Teil habe nichts für heidnische Feste übrig, muss ich gestehen; und wir würden auch nicht stören wollen.«
Bahram lachte. »Gute Nacht, meine Herren, und sollten Sie sich’s anders überlegen: Sie sind herzlich willkommen.«
»Gute Nacht.«
Als er in den Achha Hong zurückkam, ging er sofort zu Bett. Bei Tagesanbruch stand er auf, entzündete Räucherwerk und wanderte damit durch alle Räume. Wieder in seinem Schlafzimmer, machte er sich voller Energie daran, seinen Altar zu säubern und zu ordnen. Schon in frühester Kindheit hatte man ihn gelehrt, dass Nouruz ein Tag des Reinigens und der Reinlichkeit war, der Tag, an dem der dunkle Schatten Ahrimans aus den entlegensten Winkeln des Hauses vertrieben wurde. Und obgleich er wusste, dass seine Arbeit nur symbolischen Charakter hatte, weckte der Staubwedel in seiner Hand viele schöne Erinnerungen an vergangene Nouruz-Feste.
Nach einer Stunde war er ins Schwitzen geraten, läutete nach heißem Wasser und nahm ein langes Bad. Dann ließ er den Khidmatgar kommen und zog die neuen Kleider an, die ihm seine Familie aus Bombay geschickt hatte.
Zum Frühstück hatte Mesto einige seiner bevorzugten Parsengerichte zubereitet: ein butterweiches akuri, knusprige bhakra, mit Süßerbsen gefüllte da ni pori, hart gekochte Eier, gebratenes Butterfischfilet, khaman-na-larva, reichlich gefüllt mit gesüßter Kokosnuss, und süßen, in Milch und Ghee gekochten Weizengrieß.
An anderen Tagen hätte Bahram länger bei seiner Mahlzeit verweilt, heute aber gab es zu viel zu tun. Als Rangältester der Gemeinde hatte er alle Parsen in Kanton zu sich eingeladen. Ein großer leerer Lagerraum im Erdgeschoss war bereits geputzt und für die Feier hergerichtet worden, doch bevor die Gäste eintrafen, musste noch ein richtiger Nouruz-Altar aufgebaut werden.
»Vico! Wo ist denn diese Spitzentischdecke?«
»Hier Patrão, ich habe sie schon geholt.«
Kaum war der Altar fertig – auf dem silbernen Tablett standen Rosenwasser, Betelnüsse, Reis, Zucker, Blumen, brennendes Sandelholz und ein Bild des Propheten Zarathustra bereit – , da kamen auch schon die ersten Gäste. Bahram stellte sich an die Tür und begrüßte jeden mit einer Umarmung und einem
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