Der rauchblaue Fluss (German Edition)
passiert.«
»Wovon reden Sie, Bahram-bhai? Was war mit Ihrem Schwiegervater?«
Bahram trank von seinem Tee. »Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, Zadig Bey«, sagte er. »Von der Anahita . Haben Sie gesehen, wie schön dieses Schiff ist? Lassen Sie mich erklären, weshalb mein Schwiegervater so viel Sorgfalt auf sie verwandt hat. Über Jahre hatte er Schiffe für die Engländer gebaut, für die Ostindien-Kompanie und die königliche Marine: fünf Fregatten, drei Linienschiffe und unzählige kleinere Schiffe. In Bombay war das zu einem günstigeren Preis möglich als in Portsmouth oder Liverpool, trotzdem aber mit allen technischen Neuerungen. Als die Schiffbauer in England das merkten, was glauben Sie, was dann passierte? Sie reden von Freihandel, wann immer es ihnen gerade gelegen kommt, aber auf ihr Betreiben hin wurden die Bestimmungen dahingehend geändert, dass die Kompanie und die Marine keine Schiffe mehr bei uns bestellen durften. Und dann kamen neue Gesetze, durch die es wesentlich teurer wurde, indische Schiffe im Überseehandel einzusetzen. Mein Schwiegervater begriff als einer der Ersten, woher der Wind wehte. Er wusste, dass sich das Schiffbauergewerbe in Bombay unter diesen Umständen nicht mehr lange würden halten können. Deswegen sollte die Anahita das beste und schönste Schiff werden, das er je gebaut hatte. Damals hat er immer zu mir gesagt: Bahram, siehst du, was auf unseren Werften passiert? Genauso wird es in jedem anderen Handwerk und Gewerbe kommen. Wir müssen Alternativen finden, sonst ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir aus dem Geschäft gedrängt werden.«
»Aber was bedeutet das, Bahram-bhai?«
»Es bedeutet, dass wir einen Weg finden müssen, Zadig Bey, unseren eigenen Weg. Wir müssen unsere Geschäfte an Orte verlegen, wo die Gesetze nicht so geändert werden können, dass wir kaltgestellt werden.«
»An was für Orte?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht nach England selbst. Oder in andere europäische Länder. Vielleicht sogar nach China. Oder aber« – Bahram lächelte verschmitzt – »in ein Land, das uns gehört. Mit genug Geld könnten wir doch ein Land kaufen, oder nicht? Ein kleines?«
Zadig brach in Gelächter aus. »Bahram-bhai, das klingt ja, als würden Sie einem Aufruhr das Wort reden!«
»Einem Aufruhr?« Bahram musste nun auch lachen. »Arré, was für ein Unsinn! Einen loyaleren Untertan der Königin als mich gibt es doch gar nicht … «
Bevor er fortfahren konnte, flog die Tür auf.
»Patrão!«
Vico war so schnell die Treppe heraufgerannt, dass er erst einmal innehalten und Atem schöpfen musste.
»Patrão, eben war ein Bote da, von Mr. Wetmore. Eine Sitzung ist einberufen worden. Sie müssen sofort hin!«
21. März
Wieder einmal, liebe Paggli, setze ich einen unterbrochenen Brief fort – und ich könnte nicht sagen, dass ich die Unterbrechung auch nur im Mindesten bedaure, denn nie war mir eine Verzögerung willkommener als diese! Dazu nur so viel: Nicht lange nachdem es geklopft und ich die Tür geöffnet hatte, fand ich mich mit Charlie King in einem Boot wieder, auf dem Weg nach French Island!
French Island liegt hinter Honam in Richtung Whampoa. Es ist ein ausgedehntes Stück Land mit Hügeln, Tälern und Ebenen, alles intensiv bewirtschaftet. Der Ausländerfriedhof liegt nicht weit vom Fluss an einem bewaldeten Hang. Es ist ein ruhiger, friedlicher Ort, was man im Kontrast zu dem belebten, kaum eine Meile entfernten Perlfluss umso stärker empfindet. Ein Bach fließt daran vorbei, von hohen Bäumen gesäumt, die ihre Schatten auf die Gräber werfen. Die Szenerie hat etwas von der wolkenverhangenen Melancholie der Landschaften Mr. Constables. Einige der Grabsteine sind abgesackt und überwuchert, andere mit Moos überzogen. Es ist herzzerreißend , die Inschriften zu lesen, denn viele, die hier ruhen, wurden wie James Perit dahingerafft, als sie noch kaum dem Knabenalter entwachsen waren. Ich musste unwillkürlich daran denken, dass ich, würde man mich jetzt zur letzten Ruhe betten, älter wäre als viele andere hier.
Mr. Perits Grab ist eines der wenigen gepflegten (Charlie bezahlt einen Dorfbewohner aus der Gegend dafür, dass er sich darum kümmert). Charlie hatte Blumen mitgebracht, und als er niederkniete, um ein Gebet zu sprechen, sah ich, wie sich eine Träne aus seinem Auge stahl und seine Wange hinabrollte.
Aber ich darf nicht zu lange hierbei verweilen, liebe Paggli, sonst kann auch ich die Tränen nicht
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