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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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ein und setzten die Lagerräume in Brand. Ich flüchtete aus meinem Zimmer und rannte die Stadtmauer entlang, bis ich den Sea-Calming Tower erreichte. Aus dieser Höhe sah ich eine Feuerwand über dem Fluss aufragen: Die Faktoreien brannten, und sie brannten die ganze Nacht hindurch. Als am Morgen die Sonne aufging, lag Fanqui-Town in Schutt und Asche. Die Enklave war weg, nichts war mehr da, Markwick’s Hotel, Lamquas Atelier, die Kaschemmen in der Hog Lane, die Fahnenmasten auf dem Maidan. Alles war weggefegt, und nur noch Asche war übrig …
    Und jetzt verfolgen mich diese Bilder, liebe Paggli, fast Nacht für Nacht kehren sie wieder. Nicht einmal beim Aufwachen kann ich sie mir aus den Augen reiben. Und ich kann auch nichts anderes mehr malen; ein Dutzend Fassungen habe ich schon fertig – eine schicke ich Dir mit.
    Gern hätte ich sie Dir persönlich gebracht, liebe Paggli, aber ich bin im Moment zu mitgenommen , um selbst an diese so kurze Reise auch nur zu denken. So war es bei uns Chinnerys schon immer: Sind wir glücklich, jauchzen wir himmelhoch, sind wir es nicht, stürzen wir in einen tiefen Abgrund . Und so ergeht es mir jetzt, liebe Paggli.
    Ich beneide Dich um Dein Glück, meine liebe, süße Kaiserin von Paggledom, aber ohne Begehrlichkeit . Ich freue mich so für Dich und wünschte nur, ich könnte Deine Freude teilen … aber, ja, ich gebe es zu: Ich möchte nicht, dass Du vor lauter Freude Deinen armen Robin vergisst.
    Nil las die ganze Nacht hindurch, und als Diti am Morgen in die Hütte kam, zeigte er ihr die Briefe. Da sie nie lesen gelernt hatte, sagten sie ihr nichts. Die Bilder aber, die Nil in dem Päckchen gefunden hatte, weckten auf Anhieb ihr Interesse, besonders dasjenige, das Fanqui-Town in Flammen zeigte.
    »Was ist das für ein Ort?«, wollte sie wissen. »Wo ist das?«
    »Das ist ein Ort, von dem du schon viel gehört hast«, sagte Nil. »Kalua und dein Bruder Kesri Singh waren während des Krieges dort und haben dir bestimmt davon erzählt. Jodu auch – und auch Paulette.«
    »Ah! Dann ist das Chin-kalan?«
    »Ja. Kanton auf Englisch.«
    »Warum brennt es dort?«
    »Das ist eine seltsame Geschichte … «
    Nil drehte das Blatt um und zeigte auf die rechte untere Ecke, wo in winzigen Lettern »Pixt. E. Chinnery, Juli 1839« geschrieben stand.
    »Hier«, sagte er, »der Maler – Paulettes Freund Robin Chinnery – hat als Datum Juli 1839 angegeben. Die dreizehn Faktoreien sind erst siebzehn Jahre später zerstört worden, aber anscheinend hat Robin den Brand in einem Traum vorausgesehen.«
    »Dann gibt es den Ort nicht mehr?«
    Nil schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Im Krieg wurde Kanton eines Nachts von britischen und französischen Kanonenbooten bombardiert. Als die Einwohner sahen, dass Fanqui-Town als einziger Stadtteil unversehrt blieb, gerieten sie in Zorn und setzten die ausländischen Faktoreien in Brand. Die Gebäude wurden geschleift und nie wieder aufgebaut.«
    »Du warst noch einmal dort?«
    Nil nickte. »Ja. Das letzte Mal fast dreißig Jahre nach meinem ersten Besuch. Fanqui-Town war nicht mehr wiederzuerkennen. Der Maidan sah trostlos aus ohne die Faktoreien, kaum ein Stein war auf dem anderen geblieben. Nicht weit davon hatte man eine neue Ausländerenklave gebaut, auf einer aufgeschütteten Sandbank namens Shamian Island. Die Häuser der Europäer dort sahen ganz anders aus als die dreizehn Hongs, und auch die Atmosphäre war ganz anders als im alten Fanqui-Town. Es war eine typische ›weiße Stadt‹, wie die Briten sie überall gebaut haben, getrennt von der eigentlichen Stadt; Chinesen durften nicht hinein, nur Dienstpersonal. Die Straßen waren sauber und von Bäumen gesäumt, die Gebäude so respektabel und langweilig wie ihre Bewohner. Aber hinter dieser Fassade fader Ehrbarkeit importierten die Ausländer mehr Opium aus Indien als je zuvor – die Briten hatten, nachdem sie den Krieg gewonnen hatten, den chinesischen Bemühungen um ein Verbot des Rauschgifts schnell ein Ende gesetzt.
    Ich fand sie schrecklich, diese düsteren europäischen Gebäude mit ihren sittsamen Fassaden und ihren Grundmauern aus mörderischer Habgier. Die neue Enklave war wie ein Monument, erbaut von den Kräften des Bösen zu Ehren ihres triumphalen Marschs durch die Geschichte. Ich hielt es kaum aus auf Shamian. Alles war so anders als das Kanton meiner Erinnerungen, dass ich mich zu fragen begann, ob diese Erinnerungen womöglich nur ein

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