Der rauchblaue Fluss (German Edition)
fortzöge. Und was würde ich tun in den Monaten und Jahren, die du im fernen China verbringst – allein und ganz auf mich gestellt, ohne einen Mann an meiner Seite? Etwas anderes wäre es natürlich, wenn gher ma deekra hote – wenn ein Sohn im Haus wäre, aber … «
So war Bahram damit zufrieden gewesen, unter den Fittichen der Mistries zu bleiben und in aller Stille seinen Geschäftsbereich zu einer würdigen Tochter des Familienunternehmens auszubauen. Doch seltsamerweise stieg sein Ansehen bei Shirinbais Brüdern trotz seines geschäftlichen Erfolges keineswegs. Im Gegenteil, zu ihrem lang gehegten Argwohn ihm gegenüber nahmen sie es ihm nun auch noch übel, dass ihr Vater sich immer mehr auf ihn verließ, ja von ihm abhängig wurde.
Trotzdem blieb die Haltung der jüngeren Mistries für Bahram ein Rätsel, nicht jedoch für seine Mutter, die in ihrem Sprichwörterschatz eine Erklärung dafür fand. »Siehst du nicht, dass sie vor dir Angst haben?«, fragte sie. »Sie sagen: palelo kutro peg kedde – der Haushund ist es, der dich ins Bein beißt … «
Wie schon so oft hatte Bahram sie ob ihrer Küchenpsychologie ausgelacht, doch am Ende sollte sie recht behalten.
In all den Jahren seiner Tätigkeit für Mistrie & Sons war Bahram davon ausgegangen – und von seinem Schwiegervater durchaus darin bestätigt worden – , dass man ihm eines Tages die alleinige Verfügungsgewalt über den Geschäftszweig übertragen werde, den er gegründet und zum Erfolg geführt hatte. Doch dann erlitt der Seth unerwartet einen Schlaganfall, der ihn lähmte und der Sprache beraubte. Viele Monate lang schwebte er zwischen Leben und Tod, was die Familie – und die Firma – in Aufruhr und Verwirrung stürzte. Das Testament, das er angeblich gemacht hatte, wurde nie gefunden, und nach seinem Tod gerieten seine Söhne und Enkel schon bald über die Zukunft der Firma in Streit. Weder Bahram noch Shirinbai spielten in diesem Machtgerangel eine Rolle, denn Shirinbais Erbe wurde von ihren Brüdern treuhänderisch verwaltet, und Bahrams Anteil am Unternehmen war nicht so groß, dass er über Sitz und Stimme verfügt hätte.
Eine erste Ahnung davon, was ihm bevorstand, bekam er, als er zu einer Besprechung mit seinen Schwägern zitiert wurde. Sie saßen ihm im Halbkreis gegenüber und teilten ihm mit, sie seien zu einem Beschluss über die Zukunft ihres Unternehmens gekommen. Die Werft befinde sich schon seit Langem im Niedergang, und sie hätten nun entschieden, das ganze Unternehmen zu verkaufen, um sich selbst und ihren Kindern das Kapital zur Gründung neuer Firmen zu beschaffen. Da die Exportabteilung und die Flotte jetzt die wertvollsten Unternehmensbereiche seien, würden sie als erste abgestoßen werden. Dass er deshalb in den Ruhestand gehen müsse, sei bedauerlich; doch in Anerkennung seiner Leistungen werde man ihm selbstverständlich eine äußerst großzügige Abfindung zahlen; im Übrigen habe er ja unbestreitbar die fünfzig bereits überschritten, und seine Töchter seien beide verheiratet und gut versorgt. Ob er nicht auch der Meinung sei, dass er einen Punkt im Leben erreicht habe, an dem eine luxuriöse Pensionierung als passender Abschluss einer glänzenden Laufbahn gelten könne.
Mit anderen Worten, er, Bahram, der so viel zum Erfolg des Unternehmens beigetragen hatte, sollte jetzt von der Nachfolge ausgeschlossen und mit einer Abfindung aufs Altenteil geschickt werden.
Dass die Mistries eines Tages bereit sein würden, ihre hochprofitable Exportabteilung zu verkaufen, hatte Bahram nie für möglich gehalten. Und auch der Gedanke an den Ruhestand war ihm unerträglich; niemals mehr auf hoher See zu sein, nie mehr nach Kanton zurückzukehren – damit wäre ihm mehr als die Hälfte seines Lebensinhalts genommen worden; er wäre sich vorgekommen wie lebendig begraben. Ohnehin waren schon drei Jahre seit seiner letzten Chinareise vergangen, und in der Zwischenzeit war sein Sohn, jetzt Anfang zwanzig, verschwunden, und Chi-mei war gestorben. Schon deshalb kam es für ihn nicht infrage, für immer auf Kanton zu verzichten; mit der quälenden Ungewissheit, was aus seinem Sohn geworden war, hätte er nicht lange leben können.
»Warum jetzt?«, fragte Bahram seine Schwäger. »Warum wollt ihr die Exportabteilung zu einem Zeitpunkt verkaufen, da sie besser dasteht als je zuvor? Warum nicht noch ein paar Jahre warten?«
Die Brüder erklärten, es gebe seit einiger Zeit beunruhigende Gerüchte über die Lage in
Weitere Kostenlose Bücher