Der rauchblaue Fluss (German Edition)
erteilen, unternehme ich gern eine Erkundungsreise nach Kanton.«
Seth Rustamji war noch immer nicht überzeugt. »Nein«, sagte er, »das ist zu weit von unserer Geschäftspraxis entfernt. Dazu kann ich meine Zustimmung nicht geben.«
Also kehrte Bahram zu seiner Arbeit in der Buchhaltung zurück, aber seine Leistungen waren so schwach, dass Seth Rustamji ihn in sein Büro zitierte und ihm ins Gesicht sagte, er entwickle sich zu einem regelrechten Nichtsnutz. In der Werft sei er zu nichts zu gebrauchen gewesen, zu Hause vertrage er sich mit den meisten anderen Familienmitgliedern nicht, und wenn er so weitermache, werde er über kurz oder lang der ganzen Familie zur Last fallen.
Bahram senkte den Kopf und erwiderte: »Schwiegervater, jeder macht Fehler. Ich bin erst einundzwanzig – geben Sie mir die Chance, nach China zu gehen, und ich werde Ihnen zeigen, was in mir steckt. Glauben Sie mir, ich werde mich Ihrer und Ihrer Familie stets würdig erweisen.«
Seth Rustamji hatte ihn lange durchdringend gemustert und dann fast unmerklich genickt: »Also schön, dann reise nach China. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.«
So finanzierten Mistrie and Sons Bahrams erste Reise nach Kanton. Die Ergebnisse versetzten alle, nicht zuletzt Bahram selbst, in größtes Erstaunen. Das Überraschendste an dieser Reise war für ihn die Ausländerenklave von Kanton, in der die Händler wohnten. »Fanqui-Town«, wie alte Hasen sie nannten, war ein zugleich beengter und unglaublich luxuriöser Ort, an dem man ständig unter Beobachtung stand und doch den kritischen Blicken der eigenen Familie entzogen war, ein Ort, der für Frauen streng verboten war, an dem Frauen jedoch auf ganz und gar unerwartete Weise ins Leben eines Mannes treten konnten. So kam es, dass Bahram noch in seinen Zwanzigern fast unmerklich in eine wunderbare Affäre mit Chi-mei, einer Bootsfrau, hineingezogen wurde, die ihm einen Sohn schenkte – ein Kind, das er umso herzlicher liebte, als er sich in Bombay niemals zu ihm hätte bekennen können.
In Kanton war Bahram, der vielfachen Umhüllungen von Heim, Familie, Gemeinde, Pflicht und Schicklichkeit ledig, zu einem neuen Menschen geworden, einem, der bis dahin unbemerkt in ihm geschlummert hatte: Er war Barry Moddie geworden, ein selbstbewusster und tatkräftiger, geselliger und gastfreundlicher, ungestümer und enorm erfolgreicher Mann. Doch wenn er nach Bombay zurückreiste, versteckte sich dieses andere Selbst wieder in seinen Umhüllungen, und aus Barry wurde wieder Bahram, ein stiller, treu sorgender Ehemann, der klaglos innerhalb der engen Grenzen einer Großfamilie lebte. Es war aber nicht so, als wäre ein Aspekt seiner Person wahrer oder authentischer als der andere. Beide Teile seines Lebens waren für ihn gleich wichtig und notwendig, und es gab in beiden kaum etwas, was er hätte ändern mögen. Selbst Shirinbais lieblose Pflichttreue, ihre kaum verhohlene Enttäuschung, erschienen ihm unerlässlich innerhalb der Konturen seiner Existenz, stellten sie doch ein notwendiges Korrektiv zu seiner natürlichen Überschwänglichkeit dar.
In Anbetracht seines Erfolges hätte Bahram ohne Weiteres auch aus der Firma seines Schwiegervaters ausscheiden und eine eigene Handelsgesellschaft gründen können, doch das zog er nie ernsthaft in Erwägung. Schon allein sein Gehalt war so großzügig bemessen, dass er keinen Grund zur Klage hatte. Mehr noch als seinen Verdienst aber schätzte Bahram die Vergünstigungen, die mit seiner Funktion als Repräsentant einer der angesehensten Firmen Bombays einhergingen: dass er beispielsweise in einem der schönsten Anwesen Kantons residierte und ein nahezu unbegrenztes persönliches Spesenkonto hatte. Hinzu kamen der Komfort und das Prestige, die darauf beruhten, dass ihm ein Schiff wie die Anahita zur Verfügung stand, das sein Schwiegervater eigens für ihn erbaut hatte, sodass es fast so etwas wie sein persönliches Flaggschiff war. Nur wenige Kaufleute, in Kanton oder anderswo, konnten sich rühmen, in solch unerhörtem Luxus zu reisen.
Überdies wäre der Bruch mit den Mistries zwangsläufig mit einem Wohnsitzwechsel verbunden gewesen, und Shirinbai, das wusste Bahram, hätte sich niemals bereitgefunden, bei ihren Eltern auszuziehen. Wenn er eine entsprechende Andeutung machte, brach sie jedes Mal in Tränen aus. »Wie kannst du nur von so etwas sprechen? Ist es denn nicht auch unser Haus? Du weißt, dass meine Mutter es nicht überleben würde, wenn ich
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