Der rauchblaue Fluss (German Edition)
mit einer Schale in den Händen. Neben ihm lag ein Zweig mit einigen Blüten in leuchtenden Farben. Wegen der geringen Größe der Darstellung war die Form der Blütenblätter nicht genau zu erkennen, aber die Färbung der Blüten war hinreißend schön: ein Mauve, das allmählich in Gold überging.
Dem Bild gegenüber, auf dem anderen Teil der Karte, waren zwei Spalten mit chinesischen Schriftzeichen.
Paulette zeigte darauf. »Weiß man, was diese Zeichen bedeuten, Sir?«
Fitcher nickte und drehte die Karte um. Auf der Rückseite stand in verblasster, aber noch gut leserlicher gestochener Handschrift eine englische Übersetzung:
Die Blütenblätter an ihrem grünen Stängel leuchten wie
pures Gold,
Ein Purpurauge blickt aus der Mitte und bringt die Blüte
zum Glühen,
Sie lindert den Schmerz alternder Knochen und schärft
Gedächtnis und Verstand,
Sie schlägt den Tod in die Flucht, der in der Lunge schwärt.
Unter diesen Zeilen standen die Worte: Hsieh Ling-yun, Herzog von Kang-lo.
Der Herzog von Kang-lo, sagte Fitcher, sei offenbar eine historische Gestalt gewesen, kein mythischer Held. Er habe im fünften Jahrhundert nach Christus gelebt und gelte als einer der größten chinesischen Naturforscher. Die Zeilen sollten bedeuten, dass diese Blume nicht nur den Alterungsprozess umzukehren vermöge, sondern auch gegen einen der gefürchtetsten Feinde der Menschheit, die Schwindsucht, ins Feld geführt werden könne.
Viele Jahre nach Cuninghames Tod waren seine Papiere Sir Joseph in die Hände gefallen. Auch er war zu der Überzeugung gelangt, dass die Goldkamelie möglicherweise eine der größten botanischen Entdeckungen sein könnte, gewissermaßen der Gral des Pflanzensammlers. Dies, sagte Fitcher, sei einer der Gründe, warum Sir Joseph beschlossen hatte, einen ausgebildeten Gartenbauexperten – William Kerr – auf Staatskosten nach Kanton zu schicken.
»Aber Mr. Kerr hat die Kamelie nicht gefunden?«
»Nein, wohl aber Beweise für ihre Existenz.«
Die letzte Pflanzenlieferung, die Kerr nach Kew geschickt hatte, war außergewöhnlich umfangreich, und um sicherzugehen, dass sie unversehrt eintreffen würde, hatte er einen jungen chinesischen Gärtner angeheuert, der sie nach London begleiten sollte. Der Name dieses jungen Mannes war Ah Fey, und obwohl noch keine zwanzig Jahre alt, war es ihm gelungen, die Sammlung fast völlig intakt abzuliefern. Bei der Ankunft in Kew übergab er Sir Joseph auch einen kleinen »gemalten Garten« – einen Satz mehrerer Dutzend botanischer Abbildungen von der Hand kantonesischer Künstler. Darunter fand Sir Joseph das Bild einer unbekannten Pflanze, einer Kamelie, die der Blüte ganz ähnlich war, die Cuninghame gemalt hatte.
Fitcher zog eine andere Mappe aus dem Regal und reichte sie Paulette. »Hier bitte – sehen Sie.«
Das Bild war nicht auf Papier gemalt, sondern auf etwas Dickeres, Steiferes mit makellos glatter Oberfläche: ein Material, das aus dem Mark von Schilfrohr angefertigt wurde, wie Fitcher ihr erklärte, und bei kantonesischen Malern sehr beliebt war. Der Bogen hatte etwa die Größe von Kanzleipapier und in der Mitte ein schier unglaublich farbenfrohes Bild. Die künstlerische Technik verstärkte die Leuchtkraft der Farben noch: Der Maler hatte viele Farbschichten übereinander aufgetragen, sodass der Gegenstand sich scheinbar reliefartig von der glatten Oberfläche abhob – eine vollkommen ausgebildete Doppelblüte, deren Blätter in mehreren konzentrischen Ringen angeordnet waren. Im Herzen der Blüte lag ein dichtes Gewirr von Staubgefäßen, das ein mauvefarbener Kreis scheinbar von unten beleuchtete. Dieser Farbton griff von der Mitte nach außen allmählich auch auf die Stiele der Blütenblätter über. Der äußere Teil der Krone war ein goldener Strahlenkranz.
Paulette hatte noch nie so mannigfache Farbabstufungen in einer einzigen Blüte gesehen. »Sie ist sehr schön, Sir – fast so schön, dass einem Zweifel kommen könnten, ob es denn eine solche Blume wirklich gibt.«
»Kann ich Ihnen nicht verübeln«, sagte Fitcher. »Aber wenn Sie sich anschauen, wie die einzelnen Teile gezeichnet sind, werden Sie bemerken, dass hier nach einem realen Exemplar gearbeitet wurde. Nun, was würden Sie sagen?«
Als Paulette das Bild näher betrachtete, fiel ihr auf, dass die Komposition der einer botanischen Zeichnung aus Europa nicht unähnlich war: Sie war so gestaltet, dass viele aufschlussreiche Details zu erkennen waren. Die zwei
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