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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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sagte Ah Fatt: »Mutter tot.«
    Nil erschrak. Er konnte Ah Fatts Gesicht nicht sehen, und seine Stimme verriet auch keine Gemütsbewegung. »Wie ist das passiert?«
    »Vater sagt, Diebe vielleicht.« Er zuckte erneut die Achseln und sagte dann mit Entschiedenheit: »Kein Zweck über das reden.«
    »Doch, erzähl mir mehr«, sagte Nil. »Du kannst jetzt nicht aufhören. Was hat dein Vater noch gesagt?«
    Ah Fatts Stimme schien zu verhallen, so als zöge sie sich in einen Brunnenschacht zurück. »Vater froh mich sehen. Er wein und wein. Er sag, er viel Sorgen hab um mich.«
    »Und du, warst du auch froh, ihn zu sehen?«
    Ah Fatt zuckte die Achseln und schwieg.
    »Aber was noch? Hat er dir gesagt, was du jetzt machen sollst?«
    »Er auch mein, ich besser zieh zu Schwester in Malakka. Er sagt, nach Sommer in Kanton er mir geb Geld für eigen Geschäft. Nur muss warten drei-vier Monat.«
    Ah Fatts Aufmerksamkeit schwand jetzt sichtlich, und Nil wurde klar, dass er nicht mehr viel aus ihm herausbekommen würde. »Na gut«, sagte er. »Vielleicht sollten wir jetzt schlafen. Besser, wir reden morgen weiter.«
    Er wandte sich ab, doch Ah Fatt sagte: »Warte! Auch Neuigkeit für dich.«
    »Was?«
    »Du willst Arbeit bei Vater?«
    Nil schaute in seine leeren Augen und sein ausdrucksloses Gesicht und kam zu dem Schluss, dass er Unsinn redete. »Wovon sprichst du, Ah Fatt?«
    »Vater braucht Munshi – für schreiben Brief und lesen Zeitung. Sein alt Munshi tot. Ich ihm sag, ich weiß, wer kann machen Arbeit. In Gefängnis du Brief schreib, nein? Und du kann schreiben englisch, Hindustani und alles. Ich hab recht?«
    »Ja, aber … «
    Nil seufzte und setzte sich neben Ah Fatt. Über Bahram Modi wusste er nur, was er von Ah Fatt gehört hatte, und diese Berichte hatten eher Zweifel in ihm geweckt. Manchmal hatte er sich an seinen eigenen Vater erinnert gefühlt, den alten Zamindar von Raskhali: Sie beide hatten sich auch nur selten ausgetauscht, denn der Zamindar hatte viel mehr Zeit bei seinen Mätressen verbracht als zu Hause. Ihre seltenen Treffen waren stets mit langwierigen Vorbereitungen und vielen Ängsten verbunden gewesen. Immer wenn Nil zu seinem Vater ging, merkte er, dass seine Zunge durch eine seltsame Gefühlsmischung – Furcht, Ärger und ein dumpfer, störrischer Trotz – wie gelähmt war, und all diese Emotionen stürmten bei dem Gedanken an die Begegnung mit Bahram jetzt erneut auf ihn ein.
    Und doch, welch eine Erleichterung wäre es gewesen, eine Arbeit zu haben und nicht mehr als Flüchtling leben zu müssen.
    »Vater dich will sehen morgen«, sagte Ah Fatt.
    »Morgen?«, fragte Nil. »So früh?«
    »Ja.«
    »Was hast du ihm von mir erzählt, Ah Fatt?«
    »Ich sag, ich dich treff auf Zufall in Singapur. Ich nur weiß du hast vorher machen Munshi-Arbeit. Er sag, er dich will seh morgen. Reden über Arbeit.«
    »Aber Ah Fatt … «
    Nil war ausnahmsweise einmal um Worte verlegen, aber Ah Fatt schien auf seine seltsam intuitive Art genau zu wissen, was ihm durch den Kopf ging.
    »Du bestimmt mögen Vater, Nil. Alle mögen Vater. Manche sagen, er groß Mann. Er seh viel, kenn viel Leute, erzähl viel Geschichten. Er nix wie ich. Und ich nix wie er.« Er lächelte. »Nur einmal ich wie Vater.«
    »Wann?«
    Ah Fatt hielt seine Pfeife hoch. »Du seh? Wenn ich hab viel rauchen, dann ich wie Vater. Groß Mann alle mögen.«

Fünftes Kapitel
    D ie Küste Chinas war nur noch sieben Tagesreisen entfernt, als Paulette erfuhr, dass die Redruth neben ihrem Schatz an realen Pflanzen auch einen »gemalten Garten« an Bord hatte – eine Sammlung botanischer Gemälde und Illustrationen.
    Der Grund für die verspätete Entdeckung war, dass die Bilder nirgends ausgestellt waren. Sie lagen in säuberlich verschnürten Mappen in dem dunklen kleinen Stauraum, in dem Fitcher auch seine Pflanzenpressen, Samenkrüge und sonstigen Gerätschaften aufbewahrte. Das war kein Zufall: Fitcher interessierte sich nicht für Kunst, der ästhetische Aspekt der Bilder war ihm gleichgültig. Für ihn waren sie vor allem Hilfsmittel bei der Suche nach neuen, unbekannten Pflanzenarten.
    Anhand von Gemälden oder Zeichnungen nach Pflanzen zu suchen erschien Paulette als eine höchst erfindungsreiche, wenn auch kuriose Methode: Wie konnte jemand auf die absonderliche Idee kommen, nach neuen Arten nicht in der Natur Ausschau zu halten, sondern in der sublimen Welt der Kunst? Fitcher erklärte ihr jedoch, es handle sich um einaltbewährtes

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