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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Speerträgern. Er hätte die Bilder gern näher betrachtet, doch dafür war keine Zeit, denn Vico drängte ihn Richtung Poopdeck. »Kommen Sie, Munshiji. Patrão wartet.«
    Mit seinen Salons, Kabinen und Privatkajüten war das Poopdeck der bei Weitem luxuriöseste Teil des Schiffs. Tagsüber war es zum großen Teil von weichem Tageslicht erhellt, das durch eine Reihe verzierter Oberlichter hereinfiel. Deshalb herrschte hier nicht, wie im Innern von Holzschiffen üblich, Dämmerlicht, sondern es wirkte luftig und geräumig. Der Hauptgang war in Mahagoni getäfelt und mit gerahmten Stichen der Ruinen von Persepolis und Ekbatana geschmückt. Auch hier hätte sich Nil gern ein wenig aufgehalten, doch Vico schob ihn weiter, bis sie an die Tür zur Eignersuite kamen, und klopfte an.
    »Patrão, der Munshi ist hier – Freddy hat ihn geschickt.«
    »Führen Sie ihn herein.«
    Bahram saß an seinem Schreibtisch, in einem hellen Baumwoll-angarkha und jutis aus silberdurchwirktem Brokat. Sein Kinnbart war sauber gestutzt, und er trug einen schlichten, doch untadelig gebundenen Turban.
    Nil musterte das Gesicht des Seths mit seiner edlen Nase und der dunklen Stirn und sah, woher Ah Fatt nicht nur sein gutes Aussehen hatte, sondern auch einige seiner anderen Eigenschaften, seinen scharfen Verstand etwa, aber auch den starken Willen, eine Entschlossenheit, die an Rücksichtslosigkeit grenzen konnte. Hier jedoch endeten die Ähnlichkeiten, denn Bahram zeigte nicht die geringste Spur von Ah Fatts Verletzlichkeit. Vielmehr war er gut gelaunt, redselig und entwaffnend quirlig. Das trug, wie nicht zu übersehen war, wesentlich zu seinem Charme bei.
    »Arré, Munshiji«, rief er mit beiden Händen gestikulierend. »Warum stehen Sie da wie angewachsen? Kommen Sie doch näher.«
    Der Klang seiner Stimme vertrieb augenblicklich Nils Erinnerungen an die Begegnungen mit seinem Vater. Er sah sofort, dass Bahram keinerlei Ähnlichkeit mit dem alten Zamindar hatte – oder mit sonst einem der wohlhabenden und einflussreichen Männer, die er in seinem früheren Leben gekannt hatte. Bahram hatte nichts von dem Lebensüberdruss und der Abgestumpftheit an sich, die viele dieser Männer kennzeichnete, im Gegenteil: Sein rastloses Gebaren ließ ebenso wie sein bäurischer Akzent auf eine kraftvolle, unaffektierte Direktheit schließen.
    »Wie ist Ihr Name?«
    Nil hatte bereits beschlossen, sich nach seinem neuen Beruf zu nennen: »Anil Kumar Munshi, Sethji.«
    Bahram nickte und zeigte auf einen Stuhl. »Achha, Munshiji«, sagte er. »Bitte nehmen Sie doch dort Platz, damit wir uns in die Augen sehen können.«
    »Wie Sie wünschen, Sethji.«
    Während er auf den Stuhl zuging, hatte Nil das vage Gefühl, einer Art Test unterzogen zu werden – ein Schachzug, den Bahram beim Gespräch mit bestimmten Angestellten anwandte. Was genau da getestet werden sollte, konnte er sich nicht vorstellen, also tat er einfach wie geheißen und setzte sich ohne Umstände auf den Stuhl.
    Das war offensichtlich genau das Richtige, denn Bahram reagierte mit einem begeisterten Ausbruch: »Gut!«, rief er und schlug erfreut mit der Hand auf seinen Schreibtisch. »Eldi, thik! Sehr gut!«
    Was genau er richtig gemacht hatte, wusste Nil nicht, doch Bahram klärte ihn umgehend auf. »Ich bin erfreut«, sagte er, »dass Sie das Sitzen auf einem Stuhl beherrschen. Ich kann diese auf dem Boden hockenden Munshis nicht ausstehen. Was soll ich in meiner Position mit Daftari-Männern anfangen, die ständig auf dem Boden herumkriechen? Ausländer finden das doch nur lächerlich, nicht wahr?«
    »Ja, Sethij.« Nil verbeugte sich ehrerbietig, genau wie die Munshis, die früher in seinen Diensten gestanden hatten.
    »Sie sind also schon etwas in der Welt herumgekommen, hm, Munshiji?«, sagte Bahram. »Haben hin und wieder Polo gespielt? Und andere Sachen gespeist als immer nur daal und Curryreis? Munshis, die mit Stühlen zurechtkommen, sind nicht leicht zu finden. Können Sie auch mit Messer und Gabel umgehen? Wenigstens ein bisschen?«
    »Ja, Sethji«, sagte Nil.
    Bahram nickte. »Sie haben also mein Patenkind Freddy hier in Singapur kennengelernt?«
    »Ja, Sethji.«
    »Und was haben Sie davor gemacht? Wie sind Sie hierhergekommen?«
    Nil spürte, dass diese Frage nicht nur seiner Vergangenheit galt, sondern auch darauf abzielte, seine Englischkenntnisse zu überprüfen. Deshalb erzählte er so akzentfrei wie möglich die Geschichte, die er sich zurechtgelegt hatte: dass er einer

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