Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Verfahren, das auf die allerersten europäischen Pflanzensammler in China zurückgehe, darunter auch einen britischen Botaniker namens James Cuninghame, der im achtzehnten Jahrhundert zweimal in China gewesen sei.
Damals war das Reisen für Ausländer in China noch ein wenig einfacher gewesen als in späteren Zeiten. Auf seiner ersten Fahrt hatte Cuninghame das Glück gehabt, mehrere Monate in der Hafenstadt Amoy verbringen zu können. Dort hatte er entdeckt, dass chinesische Maler eine besondere Begabung für die Darstellung von Blumen, Bäumen und anderen Pflanzen hatten – ein willkommener Umstand für ihn, denn zu der Zeit konnte noch niemand hoffen, reale Pflanzen auf dem Seeweg von China nach Europa zu bringen. Die Sammler beschränkten sich deshalb auf Samen und das Anlegen »getrockneter Gärten«. Diesen fügte Cuninghame noch eine weitere Sammlungsart hinzu, den »gemalten Garten«: Er war mit über tausend Bildern nach England zurückgekehrt. Diese Illustrationen waren sehr bewundert worden, aber auch auf Skepsis gestoßen, denn dem an die europäische Flora gewöhnten Auge musste es unwahrscheinlich, ja unmöglich scheinen, dass es tatsächlich irgendwo Blumen von solch extravaganter Schönheit gab. Manche sagten, die abgebildeten Blumen seien die botanischen Entsprechungen mythischer Wesen wie Phönix oder Einhorn. Aber sie irrten natürlich: Mit der Zeit erkannten alle, dass Cuninghames Sammlung viele der bemerkenswertesten Blumen enthalten hatte, mit denen China die ganze Welt beschenkte – Hortensien, Chrysanthemen, Umen, Strauch-Pfingstrosen, die ersten öfterblühenden Rosen, Kamm-Schwertlilien, zahllose neue Gardenien, Primeln, Lilien, Taglilien, Wisterien, Astern und Azaleen.
»Aber vor allem wegen der Kamelie sollten wir Cuninghame ein ehrendes Andenken bewahren.«
Er habe nie verstanden, sagte Fitcher, warum Linné diese Blume nach Georg Joseph Kamel, einem kaum bekannten mährischen Jesuitenpater, Arzt und Naturkundler, benannt habe. Von Rechts wegen müsste die Gattung Cuninghamia heißen, denn für Cuninghame sei die Kamelie eine lebenslange Leidenschaft gewesen. Er habe die allererste Kamelie, die man je in Großbritannien zu sehen bekam, von China nach Hause geschickt.
Cuninghames besonderes Interesse galt nicht nur den Blüten der Kamelien: Er glaubte, dass diese Gattung neben den Getreidesorten möglicherweise die wertvollste, dem Menschen bekannte botanische Spezies war. Das war nicht so abwegig, wie man meinen könnte: Immerhin verdankte die Menschheit derselben Gattung den Teestrauch, Camellia sinensis , der auch damals schon verbreitet gehandelt wurde und hohe Gewinne abwarf. Cuninghames Interesse an seinen Schwesterpflanzen hatte eine chinesische Sage geweckt, die von einem Mann handelte, der in ein auswegloses Tal gestürzt war. Angeblich hatte er sich dort von einer einzigen Pflanze ernährt und war hundert Jahre alt geworden. Diese Pflanze, so erzählte man Cuninghame, sei von sattgoldener Farbe, und Aufgüsse von ihren Blättern vermochten weiße Haare wieder zu schwärzen, alten Gelenken ihre Geschmeidigkeit zurückzugeben und Lungenleiden zu heilen. Cuninghame gab ihr den Namen Goldkamelie und kam zu der Überzeugung, dass sie die Teepflanze an Wert noch übertreffen könnte, wenn es gelang, sie zu finden und zu vermehren.
»Und, hat er sie gefunden, Sir?«
»Schon möglich, aber niemand weiß es … «
Auf der Rückreise von seinem zweiten China-Aufenthalt nach England war Cuninghame vor der südindischen Küste spurlos verschwunden. Seine Sammlung war mit ihm untergegangen, und später wurde gemunkelt, er habe womöglich bestimmter geschützter Pflanzen wegen, die sich in seinem Besitz befanden, ein unzeitiges Ende gefunden. Diese Gerüchte erhielten neue Nahrung, als einige seiner schriftlichen Unterlagen unversehrt nach England gelangten: Er hatte sie kurz vor dem Aufbruch zu seiner letzten Reise abgeschickt, und es war auch ein kleines Bild von einer unbekannten Pflanze dabei.
»Von der Goldkamelie?«
»Sehen Sie selbst«, sagte Fitcher in seiner lakonischen Art. Er griff nach einer Mappe, entnahm ihr ein quadratisches Stück Papier und reichte es Paulette.
Das Bild war nur etwa fünfzehn mal fünfzehn Zentimeter groß und mit einem feinen Pinsel auf Papier gemalt, das vorher zartgelb laviert worden war. Im Hintergrund sah man, mit leichter Hand skizziert, eine neblige Gebirgslandschaft. Im Vordergrund stand eine gewundene Zypresse, darunter saß ein alter Mann
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