Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Familie von Schreibern aus dem fernen Reich Tripura, an der Grenze Bengalens, angehöre, bei Hofe in Ungnade gefallen sei und sich deshalb gezwungen gesehen habe, nacheinander bei einer Reihe von Handelsherren als Munshi und Dubash Dienst zu nehmen. Er sei mit seinem letzten Dienstherrn von Chittagong nach Singapur gereist, doch dieser sei unerwartet gestorben. Deshalb stehe er jetzt zur Verfügung.
Die Geschichte interessierte Bahram nicht weiter, doch davon, dass Nil fließend Englisch sprach, war er sichtlich beeindruckt. Er schob seinen Stuhl zurück, erhob sich und begann auf und ab zu gehen. »Shahbash Munshiji!«, sagte er. »Phataphat sprechen Sie Englisch. Da sind Sie mir überlegen.«
Nil begriff, dass er den Seth unabsichtlich herausgefordert hatte, und beschloss, künftig nach Möglichkeit nur noch Hindustani zu sprechen und das Englische Bahram zu überlassen.
»Können Sie auch Nastaliq schreiben?«
»Ja, Sethji.«
»Und Gujarati?«
»Nein, Sethji.«
Bahram schien keineswegs unzufrieden. »Das geht in Ordnung. Man muss nicht alles können. Mit Gujarati komme ich selbst halbwegs zurecht.«
»Ja, Sethji.«
»Aber ein guter Munshi muss nicht nur lesen und schreiben können. Es gibt da auch noch etwas anderes, nicht wahr? Sie wissen, wovon ich spreche?«
»Ich bin mir nicht sicher, Sethji.«
Bahram blieb vor Nil stehen, verschränkte die Hände hinter dem Rücken, beugte sich vor und fasste Nil scharf ins Auge. »Was ich meine, ist Vertrauen oder sharaafat, wie manche sagen würden. Sie kennen die Wörter, nicht wahr, und wissen, was sie bedeuten? Für mich ist ein Munshi dasselbe wie ein Geldprüfer, nur dass er es mit Worten zu tun hat. Genau wie ein Geldprüfer den Safe verschließen muss, so muss der Munshi den Mund verschließen. Wenn Sie für mich arbeiten, muss alles, was Sie lesen, und alles, was Sie schreiben, in Ihrem Kopf eingeschlossen bleiben.«
Bahram ging um den Stuhl herum, legte Nil die Hände in den Nacken und drehte seinen Kopf hin und her.
»Verstehen Sie, Munshiji? Auch wenn irgendein Schurke Ihnen den Hals umdrehen will, muss der Safe verschlossen bleiben.«
Es klang spaßhaft, hatte aber dennoch etwas Bedrohliches. Nil war verunsichert, bewahrte aber die Fassung. »Ja, Sethji«, sagte er. »Ich verstehe.«
»Gut!«, sagte Bahram aufgeräumt. »Eins müssen Sie aber noch wissen: Briefeschreiben wird nicht Ihre Hauptaufgabe sein. Wichtiger ist, was ich ›khabar-dari‹ nenne – das Sammeln von Neuigkeiten, um mich auf dem Laufenden zu halten. Viele meinen, nur Herrscher und Minister müssten über Kriege, Politik und all das Bescheid wissen. Das war früher einmal so. Wir leben in einer anderen Zeit: Ein Mann, der die khabar nicht kennt, stürzt irgendwann in die kubber. Darum sage ich immer: In den Neuigkeiten steckt das Geld. Verstehen Sie mich?«
»Ich weiß nicht recht«, murmelte Nil. »Ich verstehe nicht, wie eine Neuigkeit dazu beitragen kann, Geld zu verdienen.«
»Nun denn«, sagte Bahram und begann wieder auf und ab zu gehen. »Dann erzähle ich Ihnen eine Geschichte, um Ihnen deutlich zu machen, wie ich das meine. Ich habe sie gehört, als ich mit meinem Freund, Mr. Zadig Karabedian, in London war. Das war vor zweiundzwanzig Jahren, also 1816. Eines Tages nahm uns jemand zur Börse mit und zeigte uns einen berühmten Bankier, einen gewissen Mr. Rothschild. Dieser Mann hatte lange vor allen anderen erkannt, wie wichtig das khabar-dari ist, und ein eigenes System der Nachrichtenübermittlung aufgebaut, mit Brieftauben, Kurieren und dergleichen. Dann kam die Schlacht bei Waterloo – Sie haben sicher davon gehört?«
»Ja, Sethji.«
»Am Tag der Schlacht herrschte an der Londoner Börse große Nervosität. Wenn die Engländer verlören, würde der Goldpreis fallen. Siegten sie, würde er steigen. Was tun? Kaufen oder verkaufen? Man wartete und wartete, und natürlich erfuhr unser Bankier als Erster, wie das Treffen bei Waterloo ausgegangen war. Und was, glauben Sie, tat er?«
»Er kaufte Gold?«
Bahram lachte schallend und klopfte Nil auf den Rücken. »Sehen Sie, deshalb sind Sie ein Munshi und kein Seth. Arré buddhu – er begann zu verkaufen ! Daraufhin dachten die anderen, o weh, die Schlacht ist verloren, wir verkaufen besser auch. Also fiel der Goldpreis ins Bodenlose. Da trat Mr. Rothschild wieder als Käufer auf – und er kaufte und kaufte. Verstehen Sie? Er wusste eben früher als jeder andere, was passiert war. Später sagte man mir, die
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