Der Rauchsalon
hatte, ihr zu geben. Normalerweise waren ihre beiden vielseitig
talentierten Angestellten äußerst zuverlässig in diesen Dingen. Charles genoß
es sogar ungemein, mit einem kleinen Stück Papier auf seinem silbernen Tablett
hereinzukommen und seine großen Auftritte zu haben, als sei er der Bote, der
die gute Nachricht von Gent nach Aachen brachte. Heute abend war er jedoch
möglicherweise in der Fabrik aufgehalten worden, und Mariposa war mit dem
Käsegebäck beschäftigt gewesen.
Aber sie traf Charles, fertig für
seinen Auftritt, als er gerade mit seinen weißen Handschuhen die Kellertreppe
hinaufhastete. Keiner hatte für sie eine Nachricht hinterlassen.
»Dann werden wir mit dem Essen auch
nicht länger warten«, sagte Sarah ärgerlich. »Mr. Quiffen kennt die
Hausordnung. Wenn jemand ihn warten ließe, würde er bestimmt als erster
protestieren.«
Mr. Quiffen rief nicht an und erschien
auch nicht. Sie aßen ohne ihn und stellten fest, daß es eine äußerst angenehme
Abwechslung war. Nur Sarah wurde ein gewisses ungutes Gefühl nicht los. Es
paßte so gar nicht zu Mr. Quiffen, keinen Wind um seine Person zu machen.
Vielleicht sollte sie nach dem Essen
Anora Protheroe anrufen und nachfragen, ob Barnwell Augustus dort aufgetaucht
war. Möglicherweise war er Georges Bärengeschichte zum Opfer gefallen, die
stundenlang dauerte und dem bedauernswerten Zuhörer, wenn er sich erst einmal
darauf eingelassen hatte, jede Flucht unmöglich machte. Sarahs Nerven waren — durch
die eigenen, in der jüngsten Vergangenheit erlittenen tragischen Verluste — noch
nicht so gut, als daß sie ohne Besorgnis hinnehmen konnte, daß jemand aus
ungeklärten Gründen fernblieb, selbst wenn dieser Jemand Mr. Quiffen war.
Nach dem Essen gingen sie in die
Bibliothek, um den Kaffee einzunehmen. Sarah benutzte für diese Gelegenheiten
das echte chinesische Service, das einer ihrer seefahrenden Vorfahren nach
einem erfolgreichen Handel mit Muskatreiben, Nachttöpfen und anderen Produkten
westlicher Technologie nach Hause gebracht hatte. Die Tassen hatten den
Vorteil, so klein zu sein, daß man nur sehr wenig Kaffee brauchte, und boten Sarah
außerdem die Gelegenheit, hin und wieder eine ausgesuchte kleine
Familienanekdote hervorzukramen, und so zu der exklusiven Atmosphäre
beizutragen, für die ihre Pensionsgäste immerhin bezahlten.
Jeremy Kelling hatte ihnen schon
zweimal beim Essen Gesellschaft geleistet, und jedesmal waren seine Anekdoten
weit beeindruckender als Sarahs gewesen. Sarah wünschte sich, daß Onkel Jem
jetzt da wäre, um ihr aus ihrer schwierigen Situation zu helfen. Leider war er
zu einer Art Treffen für Zechkumpane gegangen, in irgendein passendes
verrufenes Etablissement, nach dem die Gruppe sehr lange hatte suchen müssen,
weil ihre ganzen alten Schlupfwinkel im Rahmen der Stadtsanierung entweder
geschlossen oder in anständige Kneipen verwandelt worden waren.
Glücklicherweise würde sie sich bald
zurückziehen können. Sarah hatte von Anfang an erklärt, daß sie, genau eine
halbe Stunde, nachdem der Kaffee serviert worden war, entweder ihr kleines
Refugium aufsuchen oder einer gesellschaftlichen Verpflichtung außer Hauses
nachkommen würde, obwohl sie seit der Eröffnung ihrer Pension keine Einladungen
mehr erhalten hatte. So zog sie sich auch heute zurück und überließ es den
anderen, ob sie sich weiter in der Bibliothek unterhalten oder sich ihren
anderen Plänen für den Abend widmen wollten.
Zufällig schien an diesem Abend jedoch
keiner ausgehen zu wollen. Die Pensionsgäste befanden sich immer noch alle in
der Bibliothek und genossen die ungewöhnlich freundliche Atmosphäre, als gegen
Viertel nach neun plötzlich das Telefon klingelte. Nachdem es etliche Male
geläutet hatte und somit klar war, daß Charles und Mariposa in ihrem Zimmer im
Kellergeschoß waren und entweder ein gutes Buch lasen, Bach hörten oder
möglicherweise anderweitig beschäftigt waren, ging Sarah wieder nach unten und
nahm den Hörer ab.
Nach alter Sitte und Tradition befand
sich der Hauptapparat, den Sarah jetzt benutzte, in der Eingangshalle. Da die
Tür zur Bibliothek offenstand, konnten ihre Pensionsgäste sie hören, und das
Stimmengemurmel brach abrupt ab, als sie aufgeregt sagte: »Das Polizeirevier?
Ja, hier spricht Mrs. Kelling. Ja, er wohnt hier. Mr. Quiffen ist einer meiner
Pensionsgäste. Nein, seine Familie kenne ich nicht, aber ich kann herausfinden,
wer sie sind. Warum? Ist ihm denn irgend etwas
Weitere Kostenlose Bücher