Der Rauchsalon
noch daran erinnern?« schnaubte er. »Ich habe an wichtige Dinge zu
denken, Sarah, obwohl du das manchmal einfach nicht zu begreifen scheinst.«
»Ich begreife es sehr wohl, Dolph, und
ich bin dir wirklich dankbar, daß du mir und meinen Angelegenheiten so viel von
deiner kostbaren Zeit opferst«, erwiderte Sarah so demütig, wie es von ihr
erwartet wurde. »Es ist bloß so, daß einer meiner Pensionsgäste zufällig in der
Nähe spazieren gegangen ist und einen großen, vornehm aussehenden Herrn in
einem schrecklich eleganten Mantel zur Haltestelle gehen sah. Sie dachte, das
könntest vielleicht du gewesen sein, und hat sich Sorgen gemacht, daß du
vielleicht irgendwie mit in den — den Unfall verwickelt sein könntest.«
»Oh. Verdammt nochmal, Sarah, ich kann
mich aber wirklich nicht erinnern. Und den Terminkalender hab’ ich auch nicht
dabei.«
»Aber du wirst dich doch sicher an das
ganze Durcheinander erinnern, mit all den Polizisten und Krankenwagen und was
weiß ich noch, und daran, daß die Züge alle Verspätung hatten.«
»Die verdammten Züge haben immer
Verspätung. Feuer, Vandalismus, Unfälle, Fehlplanungen, verdammte bürokratische
Inkompetenz.« Dolph ließ seinen Arm hervorschnellen und starrte auf seine
Armbanduhr. »Jetzt muß ich aber weg. Viele Grüße an die gute Frau. Nett von
ihr, sich Sorgen um mich zu machen. Findest du allein zurück?«
»Natürlich. Ich wünsche dir guten
Appetit.«
Sarah hatte nicht die Absicht, auf
direktem Wege zurück zur Tulip Street zu gehen. Nach diesem frustrierenden
Ausflug verspürte sie das Bedürfnis nach etwas zusätzlicher Bewegung. Außerdem
war es bestimmt ganz gut, ein neues Fläschchen Tusche und etwas Zeichenpapier
zu kaufen. Mrs. Sorpende würde früher oder später fragen, wie weit sie mit den
Illustrationen für Mr. Bittersohns Buch war.
Ganz in der Nähe gab es ein Geschäft
für Künstlerbedarf, allerdings war auch die Bank nicht weit entfernt, die
derart hartnäckig diese rechtsgültigen oder illegal aufgenommenen Hypotheken
zur Sprache brachte. Es konnte Jahre dauern, ehe sie genau wissen würde, wem
der Besitz eigentlich gehörte, ihr oder den Banken. In der Zwischenzeit mußte
sie weiter Zinsen und Steuern zahlen und vielleicht ein paar Intensivstunden in
Recycling bei Miss Mary Smith nehmen.
Momentan war die Entscheidung des
Gerichts jedoch nicht ihr größtes Problem. Was ihr am meisten Sorgen machte,
war Dolph. Hatte er ihre Frage, ob er an dem besagten Abend in der U-Bahn
gewesen war, einfach nicht klar beantworten wollen, oder war seine diffuse
Antwort nur darauf zurückzuführen, daß er eben Dolph war? Und welches Urteil
würde Mr. Bittersohn von Miss Mary Smith zu hören bekommen?
Ob die beiden wieder zusammen zu Mittag
aßen, möglicherweise eine dieser riesigen heißen Brezeln, die Sarah sich als
Kind immer so sehnlichst gewünscht hatte, und diese mit giftgelber
Orangenlimonade hinunterspülen würden, die Sarah selbst nie hatte kaufen
dürfen, weil sie voller Chemikalien war? Wie es wohl wäre, wenn man genau das
tun konnte, wozu man wirklich Lust hatte?
Wenigstens hatten sie und Alexander im
Winter geröstete Maronen vom Maronenmann gekauft und im Sommer Popcorn, um
damit auf dem Teich von den Schwanenbooten aus die Enten zu füttern. Das war
genau der Park gewesen, den sich auch Onkel Freds Frösche ausgesucht hatten.
Damals war sie ein Kind gewesen und Alexander ein junger Mann, der noch nicht
damit angefangen hatte, jeden Pfennig umzudrehen. Wie schön war das gewesen,
dachte sie, aber irgendwie schien sie die Erinnerung momentan auch nicht zu
trösten. Sarah zwang sich, wie so oft in diesen Tagen, ihre Gedanken von ihrem
verstorbenen Mann zu lösen und sich aktuellen Problemen zuzuwenden, etwa der
Frage, ob die kargen Essensreste vom letzten Abendessen sich möglicherweise
noch in ein interessantes Frühstück verwandeln ließen.
Auf allen möglichen Umwegen ging sie
nach Hause zurück. Dank des Spaziergangs fühlte sie sich etwas besser und
fischte gerade in ihrem Portemonnaie nach ihrem Haustürschlüssel, als ein Mann
aus dem Haus kam, der ein Paket trug, das in braunes Papier eingeschlagen war.
Zu ihrem großen Erstaunen beachtete er sie nicht im geringsten. Sarah war
eigentlich nicht daran gewöhnt, an der eigenen Haustür ignoriert zu werden.
Als sie ins Haus kam, klärte sich die
Sache jedoch auf. Mr. Hartler kam federnden Schrittes aus seinem Zimmer und
bestand darauf, ihr aus dem Mantel zu helfen und ihn
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