Der Rausch einer Nacht
erstbeste Glas und trank einen Schluck von dem Chardonnay.
Die Jahre hatten ihn nicht weicher werden lassen, dachte sie ein wenig traurig, sondern eher das Gegenteil bei ihm bewirkt. Als junger Mann hatte er die finstere Entschlossenheit gehabt, das College aus eigener Kraft zu schaffen. Aber er war gleichzeitig freundlich gewesen, und man hatte ihm alle möglichen Probleme anvertrauen können. Wenn er heute sprach, schwang immer ein zynischer Unterton in seiner Stimme mit. Und in seinen Augen befand sich eine unangenehme Kälte. Beides war ihr vor allem aufgefallen, als sie sich vorhin an der Tür zuerst geweigert hatte, mit ihm zusammen den Saal zu betreten.
Er schien noch härter geworden zu sein. Aber er war immer noch höflich und zuvorkommend, hielt sie ihm zugute. Als der Fotograf auf dem Balkon erschienen war, hatte Cole keinen Moment gezögert, sie zu retten. Es war klug, sofort einen Plan zu entwickeln, wie aus ihrer Blamage eine für sie vorteilhafte Situation entstehen konnte.
Und zu diesem Zweck hatte er sie geküßt...
Dianas Hand zitterte, als sie das Weißweinglas an die Lippen setzte. Das hätte sie nie zulassen dürfen! Wie töricht und uncharakteristisch impulsiv von ihr! Aber was war das für ein Kuß gewesen ... Zuerst ein ganz weicher Druck ... und anfangs etwas für sie, weil sie dabei auf so enge Tuchfühlung mit den Beinen, der Brust und dem Mund eines Fremden kam ... Nun gut, eher ein alter Freund. Seine Lippen hatten die ihren erforscht und dann mit einer Intensität geküßt, die merkwürdige Dinge in ihr ausgelöst hatten.
Schließlich war aus dem behutsamen Suchen Verlangen geworden. Nach dem ersten Kuß hatte er ihr tief in die Augen gesehen ... und sie dann wieder geküßt ... erneut anfangs vorsichtig, aber dann immer - hungriger!
Dianas Wangen brannten, und sie trank das Chardonnayglas leer, um ihre Nerven zu beruhigen. Der zweite Kuß war entschieden zuviel gewesen. Sie war nicht die erste, die man sitzengelassen hatte, aber solche Frauen warfen sich nicht dem Erstbesten in die Arme, der Mitgefühl und starke Schultern versprach.
Oder?
Jetzt, wo sie genauer darüber nachdachte, kam es ihr so vor, als würden verlassene Frauen genau das tun.
Je länger Diana sich alles durch den Kopf gehen ließ, desto deutlicher festigte sich in ihr der Schluß, daß sie mal wieder aus einer Mücke einen Elefanten machte und einem harmlosen Kuß zuviel Bedeutung beimaß, zu dem es doch nur gekommen war, um einem herumschnüffelnden Reporter einen Streich zu spielen. Während sie selbst die Szene immer wieder in Gedanken durchspielte und sich in etwas hineinsteigerte, hatte Cole den ganzen Vorfall vermutlich längst komplett vergessen, weil er ihm viel zu trivial erschienen war. Woher wußte sie denn, ob Harrison nicht selbst mit einer schönen Begleiterin zum Ball gekommen war, die sich jetzt neben ihm an seinem Tisch befand? Und wenn er tatsächlich allein hier aufgetaucht sein sollte, brauchte er sich über mangelnde Aufmerksamkeit der Damenwelt sicher nicht zu beklagen.
Die junge Frau kämpfte hart dagegen an, hinüber zum Ehrentisch zu spähen, und verlor die Schlacht. Sein Tisch befand sich nur zwei Reihen vor ihrem - ein Stück weiter links und direkt unter dem Pult des Auktionators, das auf einem Podium aufgebaut war. Wenn Diana den Kopf etwas nach links oder nach rechts neigte, konnte sie den größten Teil der Personen am Ehrentisch ausmachen.
Wie zufällig hob sie das Glas an den Mund und drehte sich dabei ein wenig. Coles Tisch war größer als der ihre, und an ihm hatten einige Gäste mehr Platz gefunden. Zwei von ihnen erkannte Diana sofort, und gleich wurde ihr das Herz schwer.
Franklin Mitchell war der Präsident des diesjährigen Balls, und so gehörten er und seine Gattin natürlich an den Ehrentisch. Dazu gesellten sich deren Sohn Peter mit seiner Frau Haley, geborene Vincennes. Neben ihnen saß ein weiteres Pärchen, Freunde von Peter und Haley. Bei der älteren Dame mit dem blaugefärbten Haar handelte es sich um Mrs. Canfield, deren Vorfahren den White Orchid Ball einst ins Leben gerufen hatten. Der Mann mit der Halbglatze an ihrer Seite konnte nur ihr Sohn Delbert sein, ein Junggeselle in den mittleren Jahren.
Franklin sagte gerade etwas und erhielt dafür lautes Gelächter von der anderen Seite des Tisches. Diana neigte den Kopf unmerklich in die Richtung und entdeckte dort Conner und Missy Desmond. Alle in der Runde lachten, bis auf ... Dianas suchender Blick
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