Der Rebell - Schattengrenzen #2
schloss genießerisch die Augen. »Das wäre ja so toll.«
»Vergiss das gleich mal wieder.« Kopfschüttelnd griff Oliver in Chris’ Seiten. Den markerschütternden Schrei hatte er allerdings nicht erwartet. Offenbar war der Kleine noch kitzliger als zuvor. Seine Ohren klingelten. »Geht’s auch leiser?«
Chris griff auch in seine Seite, wobei er – wohl rein prophylaktisch – schrie. Die Berührung war so stumpf, dass nicht der Hauch eines Kitzelns ankam.
Behutsam legte Oliver ihm die Hand auf den Bauch, nur um mit seinen Fingernägeln vorsichtig zu kraulen. Der nächste Schrei hätte Glas zum Bersten bringen können, wenn welches da gewesen wäre.
»Leiser, Chris …«
Der Kleine strampelte und lachte. Offenbar wollte Micha nicht mehr nur danebensitzen, sondern mitmachen. Er kletterte über Olivers Schoß und schnappte sich den Arm seines Zwillings.
Das wurde langsam gefährlich, besonders mit Michaels Glasknochen. »Langsam ihr zwei, nicht so grob.«
Chris schien die Worte zu überhören, er lag zwar noch immer wie eine Schildkröte auf dem Rücken, strampelte aber, was das Zeug hielt.
Die einzelnen Tritte taten Oliver nicht weh, aber es störte. Zugegeben, er hatte den Anfang gemacht, einen Plan, der mit Chris an der Seite gern mal nach hinten losging, spätestens, weil er selten hörte. Dazu ließ sich der Kleine viel zu gern treiben. Er kannte auch kein Maß gegenüber anderen.
Oliver bleckte die Lippen. Sein gellender Pfiff brachte die Jungs zu Räson.
»Ruhig jetzt, okay?«
Aus zusammengekniffenen Augen musterte Chris ihn. »Du hast doch angefangen, also scheiß dich selber an.«
Oliver nickte. »Stimmt, aber reiß dich mit deinem Ton mir gegenüber am Riemen, sonst rauschen wir zwei heute noch zusammen.«
Micha beeilte sich, aus dem Weg zu gehen. Er strich sich seinen Pony aus dem Gesicht und zupfte seinen Pulli zurecht.
»Lass gut sein, Olli, ich wollte ja mitmachen.«
Matthias stand auf und streckte sich.
»Bei euch ist die Konzentration ohnehin im Eimer. Geht euch mal abreagieren.«
Chris federte auf die Füße und rannte aus dem Zimmer. Micha folgte nur unwesentlich langsamer.
Oliver hob abwehrend die Hände. »Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe, okay?«
Matthias zuckte die Schultern. »Ist schon in Ordnung. Das war wenigstens mal für ein paar Minuten etwas Anderes.«
»Davon abgesehen sind wir jetzt taub«, fügte George hinzu. Er blinzelte gutmütig. »Meine Jungs hätte ich anders aber auch nicht unter Kontrolle bekommen.«
Vorsichtshalber ging Oliver darauf nicht ein. Er wies auf die Papierberge. »Habt ihr was Interessantes gefunden?«
George nickte. »Die Haus- und Mietabrechnungen von 1901.«
»Gehört den Markgrafs das Haus schon so lang?«
»Ja, seit Erbauung.«
Er drehte seinen Laptop, sodass Oliver einen Blick darauf werfen konnte. George hatte eine umfangreiche Excelliste angelegt, sortiert nach Datum, Mietern und Besitzern.
»Darf ich?«
Der Beamte nickte. Oliver nahm ihm den Rechner ab und überflog die Mieternamen. Ihn überraschte nicht, den Namen Hirsch zu lesen. Ab Mai 1921 lebten Jacob und Helene Hirsch in dem Haus. Offenbar gehörte ihnen auch die Buchhandlung anfänglich allein. Ein Jahr später stand nur noch sie in der Liste.
Trauerkleidung, die Frau auf dem Foto trug Trauer. Also musste sie in Walters Geburtsjahr ihren Mann verloren haben.
Ob sie allein die riesige Wohnung bewohnt hatte? Wahrscheinlich nicht. Wenn er mit seiner Vermutung richtig lag, hatte Helene eine Tochter, die vermutlich in Walters Alter gewesen war und wahrscheinlich Rachel hieß.
Ab 1929 wurde Helene Hirsch nicht mehr gelistet, dafür aber Erna Markgraf.
Verrückt, wie konnte sich jemand solch eine Herabwürdigung gefallen lassen? Erst die Scheidung, dann in die Wohnung der Nebenbuhlerin einziehen, um täglich das glückliche Paar zu sehen.
Das musste die absolute Demütigung gewesen sein und zählte zu den kreativsten Arten des Masochismus.
»In welcher Etage lebte Helene Hirsch mit ihrem Mann eigentlich?«
»Unter dem Dach. Die Wohnung, die Markgraf jetzt bewohnt.«
»Bitte?«
Unmöglich, die Wohnung musste doch von seinem Urgroßvater bewohnt worden sein, oder doch nicht?
Wenn Helene und Erna nicht nur die Plätze, sondern auch die Wohnungen getauscht hatten, ergab alles wieder mehr Sinn.
»Deine Urgroßeltern hatten die Riesenwohnung im Hochparterre, die zur Matthias-Claudius-Straße.«
Daniel stellte seinen Rechner zur Seite und stand auf. Steifbeinig
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