Der Rebell - Schattengrenzen #2
sterben, der er eigentlich war.
Ein erstickendes Gefühl der Leere drückte ihn nieder. Warum durfte er diesen Walter nicht schon früher kennenlernen? Weshalb band er sich an dieses verfluchte Haus, wenn er überall sonst frei sein konnte?
»Daniel?« Er wandte sich zu ihm um. »Warum ist er dem Einfluss des Hauses nie entgangen?«
»Vielleicht, weil er nicht konnte?«
»Meinst du?« Oliver zögerte. »Vielleicht hat ihn eine grausame Person wie seine Mutter an diesen Ort gebannt?«
Er nickte. »Ihr Hass hängt in dem ganzen Haus fest.«
»Ja, das Wesen, das wir gesehen haben, in der Nacht …«
Daniel gab ihm einen leichten Schubs.
»Bernd kommt zurück, allein.«
Der Kommissar blieb dicht vor Oliver stehen. »Du wirst informiert, wenn Leitner mehr weiß.«
Alle Angst und Wut wich der tiefen Leere. Also warten, warten auf den Tod.
Weißhaupt reichte ihm einen dicken, braunen Umschlag.
Hilflos hob Oliver die Hände. »Was ist das?«
Weißhaupt zuckte mit den Schultern. »Wir fahren nach Wiesbaden zurück.« Er zog seine Hand aus der Hosentasche und hielt einen dicken Schlüsselbund an einem rostigen Eisenring hoch. »Leitner sagte mir, der Wunsch deines Großvaters sei, dass wir direkt zur Buchhandlung fahren. Erst dort sollst du den Umschlag öffnen.«
Der Schreibtischstuhl ächzte leise unter seinem Gewicht, als er sich nach vorn lehnte, um den Brieföffner hinter der verklebten Tastatur aufzunehmen. Wie bei nahezu allem auf dem Bürotisch, lag auch hierüber eine gewisse staubige Klebrigkeit.
Schwacher Ekel kroch seine Kehle hinauf. Das Bedürfnis, sich die Hände gründlich zu waschen, nahm stetig zu.
Gegen die abgestandene, trocken staubige Luft standen die beiden schmalen, hohen Hinterhoffenster weit offen. Neben Kälte wehte glücklicherweise frischer Wind herein. Der Geruch nach Alter und Kräutertee war nicht wirklich angenehm.
Oliver schnitt den braunen Umschlag auf.
Um den dicken Stapel Papier nicht zu beschmutzen, wusch er sich in der Teeküche die Hände. Teeküche? Das Ding war ein lichtloser Alkoven ohne Fenster, nur mit einem Abzug. Ein alter Hängeschrank, die Spüle und eine einzige Kochplatte bestimmten die Ausstattung. Hier stapelten sich gebrauchte Tassen mit undefinierbaren Ablagerungen von Jahren, kleine Töpfe mit schimmligen Nahrungsresten und benutzte Teller.
Walter hatte nicht damit gerechnet, längerfristig fort zu sein.
Oliver drehte das Wasser ab und schüttelte die Hände ab. Die Restfeuchtigkeit versickerte im Stoff seiner Hose.
Beim besten Willen, dieses Handtuch ging gar nicht.
Daniel strich im Laden umher. Offenbar faszinierte ihn die Masse der Bücher. Weißhaupt hingegen saß auf einer der unausgepackten Bücherkisten. Mit seinem Gewicht drückte er den Karton ein. Allerdings schien es ihm ebenfalls zuwider zu sein, mehr in dem Büro zu berühren, als zwingend notwendig.
»Oliver, beeilst du dich vielleicht mal?« Der Kommissar klang angespannt. Vielleicht nicht zu Unrecht. Das Gefühl, aus den lichtlosen Flecken im Raum belauert zu werden, sich bewegende Schatten in dem modrigen, engen Innenhof zu sehen oder Geräusche jenseits der Stahltür zum Archiv zu hören, löste auch bei ihm ein gewisses Quäntchen Scheu aus. Aber solange niemand direkt angriff, konnte es noch nicht so schlimm sein.
Er trat nach draußen. Das sich auflösende Sitzkissen mit der herausquellenden Schaumstofffüllung auf dem Bürostuhl erschütterte ihn nicht annähernd so stark wie die ganzen Speisereste.
Mit spitzen Fingern zog er den Papierstoß aus dem Umschlag und stellte sich ans Fenster. Auf dem Sims zu sitzen war ebenfalls schlicht unmöglich, weil sich der Staub und Dreck der Jahre mit einem Haufen toter Insekten zu einer schwarzkörnigen Schicht verbunden hatte.
»Darf ich dir einen Platz auf der Kiste anbieten?«
Oliver sah über die Schulter, lächelte, schüttelte aber schließlich den Kopf. »Danke, ich bleibe besser stehen.«
Weißhaupt zuckte mit den Schultern.
Erneut musterte Oliver die einfach zusammengefalteten Papiere. Unterlagen mit Wasserzeichen verhießen generell hochoffizielle Post. Das Einzige, was dagegen sprach, waren die handschriftlichen Reliefe .
Er klappte die Bögen auf.
Richtig geraten.
Es handelte sich um Walters Letzten Willen, ein handschriftliches Testament. Wann hatte Walter das in die Wege geleitet? Laut Datum musste das Papier am gestrigen Tag ausgefertigt worden sein.
Irritiert rieb er sich den Hinterkopf.
»Ein
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