Der Rebell - Schattengrenzen #2
nicht brennend heiß, sondern einfach nur geprägt durch Verständnis und Geduld gewesen.
Walters leiser Händedruck bedeutete offenbar Dankbarkeit, dass er die Last seiner Kindheit und Jugend von sich abwälzen konnte. In der Berührung lag so viel Liebe und Leid.
»Lebten sie immer noch alle drei zusammen?«
»Das wurde nötig, als Helene die ersten Kinder verlor. Mutter kümmerte sich um sie. Besonders in dem beginnenden politischen Umbruch. Schließlich hatte Hitler die Macht ergriffen. Bereits 1931 kamen die ersten Judengesetze heraus. Mutter schmuggelte Medikamente aus der Apotheke und brachte sie Helene. Sie schien wie ausgetauscht. Helene war hilflos, also fand meine Mutter ihre Erfüllung darin, ihr zu helfen.«
Hatte Walter nicht gesehen, dass Helene vergiftet worden war?
Erna, diese falsche Schlange .
Wahrscheinlich hatte sie sich an Helene gerächt, indem sie ihr Sachen gab, die sie geschwächt hatten und die Kinder verlieren ließ. Er presste die Kiefer aufeinander. Sein Mitleid war verfrüht gewesen.
»Wurde Helene noch einmal schwanger?«
Er nickte. »Zwei Kinder, direkt hintereinander. Arel und Ibrahim.« Seine Lippen zitterten. »Halb Arier, halb Juden. Um wenigstens etwas Schutz zu haben, verlangte Mutter, dass ich in die HJ eintrete.« Er lachte leise. »Als Bub war ich gern dabei. Uniformen, Landschulheime, viele andere Jungen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit war erhebend. Später begriff ich, dass das falsch war. Ich konnte nicht verstehen, warum ich plötzlich nicht mehr mit Rachel befreundet sein durfte. Das wollte ich nicht. Mutter erklärte mir die Zusammenhänge. Danach ging ich mit einer anderen Intention hin. Ich konnte Helene und ihre Familie schützen, besonders Rachel. Sie konnten sich hinter meiner vorgeblichen Loyalität gegenüber dem Regime verbergen.« Bebend atmete er durch. »Die schrecklichsten Jahre begannen.«
Erna hatte ihn manipuliert und ausgenutzt, seine Naivität und Zuneigung zu Rachel benutzt, um an ein höher gestecktes Ziel zu kommen. Rudolf und Helene waren auf ihren guten Willen angewiesen.
Wie konnte man zwei Neunjährige zum Spielball der Intrigen machen? Fassungslos schüttelte er den Kopf.
Rachel, eine Jüdin und Walter, ein Junge der Hitlerjugend. Dass das grauenhafte Jahre waren, zweifelte er nicht an. Die Filme und Bücher, die er kannte, spannen kein schönes Bild. Die Zeit des Verrats, der Zügellosigkeit, der Angst, des Blutes und Wahns. Bilder aus seiner Erinnerung breiteten sich wie ein erstickendes Leichentuch aus. Dunkle Eindrücke einer nicht nachvollziehbaren Zeit, ohne Grenzen in der Macht über andere, schwemmten hoch, schwarz-weiß, wie die Filmaufnahmen der Dokus. Zugleich öffnete sich etwas. Wahre Angst vor realer Bedrohung, einem fremden Denken, einer hirnlosen Masse und wenigen wissenden Marionettenspielern, stach in seine Brust. Fürchterlich, wie eine Mauer, die sich von allen Seiten schloss, bis die Atemluft und der Platz fehlten.
»Olli?« Daniels Hand ruhte warm und schwer in seinem Nacken. Die Mauer barst. Er konnte wieder atmen. Dankbar hob er den Blick.
»Geht es noch? Wollt ihr unterbrechen?«
»Ich muss reden, junger Mann. Die Wahrheit, das ist mein Erbe an meinen Enkel.«
Die Worte jagten einen Schauder über seinen Rücken.
Erbe? Die Wahrheit? Rechnete Walter tatsächlich mit seinem baldigen Tod?
Das Haus, es hielt ihn am Leben. Allein die Essenz troff aus diesem Gedankengang. Walter gab ihm keine Möglichkeit, den Gedanken festzuhalten. »Ich war bei der Hitlerjugend, zugleich umwarb ich Rachel, die bislang eher wie meine Schwester, mein Zwilling neben mir lebte.«
Aus Freunden war ein Paar geworden, Tristan und Isolde, das Paar, das nicht Zusammensein durfte, obwohl sie füreinander geschaffen waren.
»Wie selbstverständlich gingen unsere Gefühle zu etwas Neuem über.«
»Die Nachrichten in den Büchern, die Widmungen, Tristan und Isolde …«
Walter nickte. »Das waren wir.« Über Walters Lippen huschte ein abwesendes Lächeln. »Nie zuvor und nie danach habe ich einen Menschen besser gekannt und mehr geliebt.«
»Ihr wart ein Paar?«
Er nickte. »Wir waren wahnsinnig. Als wir dreizehn waren, schworen wir einander, zu heiraten. Knapp drei Jahre danach gebar sie meine Tochter Ruth, mein erstes Kind.«
Die Worte elektrisierten Oliver bis in die Fingerspitzen. In solch einer Zeit ein Kind? War das ihr Bund, der sie über den Krieg bringen sollte?
Wahnsinnig, das stimmte. Kinder, die Kinder
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