Der Rebell - Schattengrenzen #2
auf die Beine kommen? Seit einer gefühlten Ewigkeit tigerte er unstet auf und ab.
Erst jetzt musterte er den Fremden. Er trug einen einfachen Straßenanzug, keine Uniform und keinen Kittel. An seinem Revers klemmte ein Kunststoffausweis. Der Magnetstreifen zeigte nach vorn. Absicht oder Zufall?
Der Mann blieb stehen und sah sich kurz um.
Weißhaupt lehnte an der Wand zum Innenhof, die Arme vor der Brust verschränkt und den Blick zu Boden gerichtet. Offenbar grübelte er. Sie hatten sich seit Walters Zusammenbruch nicht unterhalten. Jeder hing seinen Gedanken nach, abgesehen von Daniel, der bis eben auf der Wachstation war. Er wollte Matthias informieren.
Was wohl in Matthias vor sich ging, wenn er erfuhr, was Walter gesagt hatte? Oliver fürchtete das Zusammentreffen mit seinem Cousin fast genauso sehr, wie er es ersehnte. Die zu erwartende Situation hinterließ Bilder und einen schalen Beigeschmack des Nicht-ernst-genommen-Werdens, aber auch des Triumphs. Trotzdem brannte der innere Zwang in ihm, Matthias alles zu erzählen, alle Zusammenhänge zu erläutern, darzulegen, was er sich dazu dachte … Nicht nur ihm. Camilla gehörte ebenfalls in dieses bizarre Verwandtschaftsgeflecht. Im Gegensatz zu Matthias würde sie ihm sicher nicht ständig in die Parade fahren.
Der Gedanke an sie hinterließ eine gewisse Leere.
Seltsam, wie schnell er sich an sie gewöhnt hatte. Sie fehlte ihm zum Austausch seiner Gedanken. Aber er konnte wohl kaum verlangen, dass sie rund um die Uhr Kindermädchen und Seelenmülleimer für ihn spielte. Schließlich wollte Christoph auch etwas von ihr haben, wenn er nicht schon eifersüchtig und fuchsig war, würde er es früher oder später sein.
Er rieb sich über die Stirn.
»Herr Hoffmann?«
Oliver nickte.
»Mein Name ist Leitner.« Dank des grell weißen Lichts wirkte er bleicher als er vermutlich war.
»Wie geht es meinem Großvater?«
»Den Umständen entsprechend gut.« Der Beamte warf einen Blick zum Krankenzimmer. »Anscheinend handelt es sich nur um einen Kreislaufzusammenbruch. Aber er wird dennoch in eine Klinik verlegt. Wir können bei seinem geschwächten Zustand keine weiteren Risiken eingehen.«
Was bedeutete das? Ging es ihnen um Walter oder wollten sie einfach nur die Verantwortung abschieben, für den Fall, dass Walter starb?
»Wissen Sie, junger Mann, meine Kollegen und ich waren uns von Anfang an unsicher, einen Mann in diesem hohen Alter aufzunehmen. Seit er hier ist, hat sich sein Zustand verschlechtert. Fluchtgefahr besteht nicht, weshalb ich auch Papiere für die Verlegung fertiggemacht habe und sicher bin, dass er nach seiner Genesung in einem Heim oder zu Hause im Kreis der Familie …«
»Sie meinen also, dass Sie keinerlei Verantwortung tragen möchten?«
Leitner nickte ungerührt. »Richtig.«
»Walter hat nur noch meine beiden elfjährigen Brüder und mich. Wie sieht das also von rechtlicher Seite aus, Herr Leitner?«
»Herr Markgraf käme in diesem Fall in ein Heim und sie drei in ein sozial betreutes Wohnen, zumindest wird es in Wiesbaden so geregelt.«
Mit jedem Wort erwachte mehr kochend heißer Wut.
Objektiv betrachtet hatte Leitner recht, aber allein die Kälte und die Wortwahl reizten ihn.
»Was ich aus Ihren Worten heraushöre, ist, dass Sie davon ausgehen, Walter käme nicht mehr aus der Klinik, richtig?«
»Sie verkennen die Situation, Herr Hoffmann.«
Weißhaupt löste sich von seinem Platz an der Wand.
»Daniel, kümmere dich bitte um Oliver.«
Mit langen Schritten trat er auf Leitner zu.
»Können wir uns unterhalten?«
»Herr Weißhaupt …«
Ärgerlich starrte ihn der Kommissar an. »Du hast Sendepause, Oliver.” An Leitner gewandt, deutete er den Flur hinab. »Bitte, nach Ihnen.«
Daniel ergriff seine Hand.
»Komm, Olli!«
Er bewegte sich nicht. Frustriert starrte er Weißhaupt und Leitner hinterher. »Seit Walter von seinem Haus abgeschnitten ist, setzt der Verfall ein. Wenn er zurückkehrt, kann es sein, dass die Wesen ihn übermannen, ihn wie die Hasen und Tauben zerfetzen oder er wieder zu diesem gefühlskalten Gargoyle wird.«
Was konnte das Haus aus ihm machen? Gab es ihm Kraft, Leben, Jugend? Wenn ja, war der Preis hoch. Der Walter hier war ein erschöpfter, zerstörter alter Mann, jemand der litt, aber auch Verständnis zeigte, ganz anders als dieser seelische Steingolem.
Er starb, fraglos. Offenbar hatte sich Walter damit abgefunden, vielleicht auch angefreundet. Wahrscheinlich wollte er als der Mann
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