Der Rebell - Schattengrenzen #2
bringen?
Eine Mischung aus verschiedenen Ängsten sammelte sich wie Säure in seinem Magen und spülte seine Kehle hoch.
Mühsam drängte er sie zurück.
Eigentlich wollte er um keinen Preis zu Amman, andererseits war dieser Mann der Schlüssel zu allen Geheimnissen. Bei ihm liefen die Fäden zusammen. Einen anderen Ausweg gab es nicht. Das stand fest. Sogar Daniel und Matthias stimmten darin zu.
Auf dem Kies draußen knirschten Schritte. Das helle Geräusch mündete in ein gleichmäßiges leises Klappern von Absätzen. Stoff raschelte.
Oliver musste sich sehr zusammenreißen, sich nicht umzudrehen.
Er nahm das teure Aftershave von Amman Aboutreika wahr, das sich wie eine klamme Wolke mit dem Duft der Grab- und Urnengestecke mischte. Weitaus weniger aufdringlich umfing ihn der Duft nach Zitronen, Kerstins Parfum, dezent, zurückhaltend bis zur vollkommenen Unsichtbarkeit.
Ammans schlanke, lange Hand strich über seiner Schulter.
Ein scharfes Kreischen erklang, als die Metallfüße eines Stuhls über die Fliesen scharrten. Vermutlich rutschte Jamal auf den zu hohen Stuhl.
Die ganze Familie? Was bedeutete das? Demonstrierten sie Zusammenhalt oder die heile Welt?
Oliver wurde übel. Unter dieser aalglatten Oberfläche brodelte Unrat.
Chris drehte sich kurz um. Auch Micha schaute kurz zurück. Über seine Lippen huschte ein knappes Lächeln.
Er setzte sich aber rasch wieder gerade hin. Seine schmale Hand tastete nach Olivers. Er fing die dünnen Finger auf und umschloss sie.
Als er mit dem Daumen über den Handrücken strich, berührte er die steife Manschette des weißen Hemdes.
Quälerei, ein Kind in einen Anzug zu stecken, besonders bei knapp dreißig Grad im Schatten. Er hatte beiden gesagt, dass sie ihre Jacketts ausziehen können. Wahrscheinlich gestattete Amman seinem Sohn diese Freiheit nicht.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er links, ein Stück weiter hinten Daniel, der neben Camilla und Christoph saß. Alle drei hatten sich nicht die Mühe gemacht, sich der Situation entsprechend anzuziehen. Sie waren als Freunde hier, als Teil der Lebenden, nicht der Toten.
Leider konnte er nicht so locker an die Sache herangehen – nicht als offiziell ältester Enkel und Erbe.
Er lockerte seine Krawatte. Die Weste stand offen. Er hielt es in dem schwarzen Jackett nicht aus. Widerliche Hitze.
Die Härchen in seinem Nacken richteten sich plötzlich auf.
Oliver fühlte eindeutig Ammans Blick im Nacken. Er vermutete ihn direkt hinter sich. Hölle auch.
Der junge Pfarrer räusperte sich, wandte seinen Blick nach links zu einem Alkoven. Gedämpfte Orgelmusik drang durch die Halle. Sie perlte zwischen der aufgebahrten Urne und den kahlen Wänden, nur um zu etwas Unangenehmen zu werden, etwas vollkommen Unverständlichem.
Oliver wusste, welche Lieder gesungen werden sollten und was der Pfarrer über Walter sagen wollte. In den letzten Tagen hatten sie sich oft miteinander unterhalten. Der junge Mann war freundlich zu ihm, trotz seiner Konfessionslosigkeit, verstand aber die zwiespältige Einstellung Olivers zur Kirche und zu Walter nicht. Wie auch? Er kannte den alten Mann, den er auf seinem letzten Weg begleiten sollte, nicht. Allein deswegen war es schon fast unmöglich herauszufinden, welche Lieder aus den Gesangbüchern am Besten passten, welche Predigt und welche Teile aus Walters Historie vorgetragen werden sollten. Durfte man einen Verstorbenen mit Lügen verabschieden? Walter war kein Heiliger, nur ein Opfer, das sich zum Spielball einer unsäglichen Entität degradieren ließ. Andererseits gab es wenig Gutes über ihn zu sagen.
Er hatte eine Jüdin geliebt und zugelassen, dass sie und ihre Familie sterben mussten. Nicht unbedingt der Aufhänger der Predigt. Innerlich verschloss Oliver sich gegen die Totenrede über Walter. Sie klang geschönt, falsch und beschrieb nicht das Leid, das er ertragen musste.
Als diese Farce endlich ein Ende fand, wurde die Urne hinausgebracht. Chris und Micha drängten auf den Gang, blieben aber bei Camilla, Christoph und Daniel stehen. Sie unterhielten sich leise.
Oliver erhob sich. Nun musste er sich Amman stellen.
Es fiel ihm unglaublich schwer, sich umzudrehen. Anders als seine Brüder verspürte er keinen Drang, auch nur einen der Aboutreikas anzusehen. Er straffte sich und strich sich die Anzughose glatt.
»Es tut mir unendlich leid, Oliver.« Die Worte kamen nicht von Amman, sondern von Kerstin. Sie klangen nicht falsch, eher fremd.
Er wandte sich ihr zu.
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