Der Rebell - Schattengrenzen #2
Neben ihr stand Jamal, der stumm an ihm vorbeistarrte und sogar den Kontakt zu Chris und Micha vermied. Amman hielt seine Hand auf der Schulter seiner Frau. Es war eine vertraute Geste, die trotzdem den schalen Beigeschmack von Gewohnheit ohne Gefühl besaß.
»Danke dir.«
Sie nickte leicht. Ihr Blick strich zu der Kupferurne. Um ihre Lippen hatte sich ein harter Zug eingeschlichen. Sie wirkte blass, verhärmt und verbraucht. Dabei war sie so alt wie seine Mutter. Etwas machte ihr schwer zu schaffen. Sie zitterte leicht.
Kerstin kannte Walter, weil er der Vater ihrer besten Freundin war, oder gab es dafür andere Gründe? Sie musste von der Untreue ihres Mannes mit ihrer besten Freundin wissen. Warum blieb sie bei ihm? Nur des Geldes wegen? Kerstin zählte zu den stillen, introvertierten Menschen, die sich selten Gefühlen hingaben. Hinter ihre reglose Maske zu blicken, war fast unmöglich.
Wie dachte sie über Chris, Micha und …
Ihre Augen hatten sich dunkel verfärbt. Kleine, rote Äderchen traten hervor. Trotz des Puders konnte sie nicht verleugnen, dass sich tiefe Schatten unter den geröteten Lidern eingegraben hatten.
Wen betrauerte sie? Ihren Mann, Walter, Jamal, der für all das nichts konnte, sich selbst?
Nein, Selbstmitleid zählte nicht zu Kerstins Schwächen, nur ihr beharrliches Schweigen über all ihre Sorgen.
Über den Stuhl hinweg ergriff er ihre Hände.
»Mir tut es leid, Kerstin, alles.«
Sie sah auf. Wie klein sie doch war. Vor einem Jahr musste sie den Kopf noch nicht so weit in den Nacken legen.
Eine Mischung aus Schmerz, Verwirrung, Hoffnung und Verständnis huschten über ihr Gesicht, bevor sie sich offensichtlich weit genug im Griff hatte, um sich hinter ihrer Emotionslosigkeit zu verbergen.
Jamals kleine, dunkle Hand krampfte sich um die Rückenlehne neben Oliver. »Ihr wohnt bei uns, sagt Papa.«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht, wenn ihr es wollt.«
Oliver betrachtete das hübsche, weiche Kindergesicht, dem sich kaum ein Geschlecht zuordnen ließ. Unter den dichten schwarzbraunen Locken beobachtete Jamal ihn. Es fühlte sich eigenartig an, nicht angenehm, eher wie ein Lauern. Hatte Amman bereits festgelegt, dass er die Adoption wollte?
Ein Schauder erfasste ihn. Er schluckte schwer. Diesem zehnjährigen Jungen ins Gesicht zu sehen fiel so viel schwerer als der betrogenen Ehefrau.
Jamal wollte ihn nicht in seiner Nähe. Er wusste genau, weswegen die Ehe seiner Eltern zerbrochen war.
Sah Jamal ihn als Feind? Die zusammengepressten Lippen verdeutlichten dieses Gefühl.
In dieser Familie leben?
Oliver schluckte gallebitteren Speichel.
Vielleicht wurde es ja für Chris und Micha schön, sie waren Jamals Freunde, aber nicht für ihn. Schon jetzt fühlte es sich an wie ein Spießrutenlauf zwischen einer verletzten Frau und einem Kind, das viel zu viel gesehen und gehört hatte, um nicht zu wissen, wie schlecht die Welt um ihn war.
Das Angebot Aboutreikas entsprach einem Pakt mit dem Teufel. Das gegen Gregor Roths berechtigte Einwände setzen? Wahnsinn, emotionaler Selbstmord. Doch das, was Aboutreika in Gang gesetzt hatte, musste enden. Die Wahrheit, die Hintergründe, all das ließ sich nur im Zentrum des Ganzen aufdecken, bei Amman.
Ohne Blessuren würde es wohl kaum vonstattengehen.
Vielleicht blieb dabei mehr auf der Strecke, als notwendig. Einen Rückzieher zu machen, wäre trotzdem falsch. Der Aufenthalt bei Amman würde nicht für ewig sein, nur kurzzeitig, so lang, bis er genügend Beweise gegen Amman zusammengetragen hatte.
Kerstin entzog ihm ihre Hände. Mit einem erschöpften Lächeln legte sie ihren Arm um Jamal.
»Komm, mein Schatz.«
Sie schob den Kleinen vor sich her auf den Gang. Amman blieb stehen. »Ich habe mit meinen Anwälten geredet. Einer offiziellen Adoption sollte nichts im Weg stehen.«
Diese Worte kamen locker über Ammans Lippen.
Unter ihm wich der Boden auseinander. Schwindel erfasste ihn. Eine Welle eisiger Hilflosigkeit überspülte ihn. Kälte rann durch seine Adern. Trotz der Hitze fror er erbärmlich.
Die Theorie wurde zu einer Tatsache. Nun handelte es sich also nur noch um wenige Tage.
Stechender Schmerz erwachte. Er unterdrückte ein Keuchen.
Diese Perspektive glich einem Urteil. Der Drang, Hilfe suchend nach Daniel zu sehen, erstickte ihn fast. Aber nein, nichts anmerken lassen! Amman durfte nichts mitbekommen.
Er nickte möglichst ruhig. »Danke, Amman. Das werde ich dir nie vergessen.«
Die Hand reichen war einfach nicht
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