Der Rebell - Schattengrenzen #2
diesem Bild konnte sie kaum älter sein als Oliver. Anhand der Frisur und des Kleiderschnittes musste die Aufnahme aus der Zeit des Ersten Weltkrieges oder knapp danach stammen. Im Hintergrund erhob sich das Biebricher Schloss. Leider stand nirgends ein Datum. Möglicherweise war diese Frau seine Urgroßmutter.
Von diesem Tag an der Rheinpromenade in Biebrich gab es noch viele Bilder. Auf jeder Aufnahme strahlte sie wie die Sonne selbst. Auf manchen Bildern stand ein wohlgenährter Mann neben ihr. Der alte Markgraf, nur dass er damals noch nicht diesen unsäglichen Walrossbart trug. Sein Bauchumfang hatte sich zu diesem Zeitpunkt noch in Grenzen gehalten. Aber die Züge und seine breites, zufriedenes Lächeln waren identisch. Wie zur Bestätigung folgte ein kleines Bild, vermutlich noch aus demselben Jahr, das sie als Brautpaar zeigte. Sie standen nebeneinander, ohne sich zu berühren. Sie hielt einen Blumenstrauß in den Händen, trug Schleier und eine wuchtige Perlenkette, während er in einer schlecht sitzenden Uniform steckte. Offensichtlich war er nur ein einfacher Landser, nichts Außergewöhnliches. Trotzdem trug er ein eisernes Kreuz. Sein Blick hatte allen Glanz verloren. Der Krieg, eindeutig.
Vielleicht war die Waffe im Koffer sein Gewehr gewesen?
Hinter ihm bebte der Boden. Zweifelsohne trampelte Matthias durch den Flur. Gleich würde es ein Donnerwetter geben. Oliver wandte sich um. Er sah gerade noch, wie Matthias am Schlafzimmer vorbeiging und die Bodentür neben dem Bad öffnete. Die Stufen knarrten. Was wollte er da oben? Daniel lehnte sich in den Türrahmen.
Direkt über Oliver ächzte es. Er zuckte zusammen. Die Decke brach zumindest nicht mit ihm nach unten. Offenbar wollte Matthias zu den Tieren. »Ist er vollkommen durchgedreht?«
Daniel stöhnte. »Ich weiß es nicht.« Er kam ins Zimmer und kniete sich hin. »Was gefunden?«
Oliver reichte ihm die Fotos. »Ich denke mal, dass das meine Urgroßeltern sind.«
»Der Mann ist der gleiche wie auf dem anderen Bild, nur jünger.«
»Dachte ich mir auch.«
Kurz hob Daniel den Blick. »Sag mal, wie kommt es eigentlich, dass du einen so uralten Großvater hast? Er könnte beinahe dein Urgroßvater sein.«
Das stimmte leider. Wahrscheinlich lag da auch der Grund, weshalb er mit Walter nicht gut auskam.
»Walter hat oft geheiratet und alle Frauen überlebt. Er ist fünf- oder sechsfacher Witwer. Nur mit meiner Großmutter hatte er ein Kind, Silke, meine Mutter.«
Daniel legte zweifelnd die Stirn in Falten. »Du kannst mir nicht erzählen, dass er sein erstes Kind erst mit fünfzig gezeugt hat – besonders wenn er schon so oft verheiratet war.«
Genau genommen hatte Daniel recht. Genauso eigenartig war es, dass er alle Frauen überlebt hatte. Aber vielleicht hatte seine Mutter darin unrecht, und es handelte sich nicht um Todesfälle, sondern banale Scheidungen, oder sie waren ihm weggelaufen. Wer hielt es schon lang neben einem einsilbigen Sonderling aus?
»Ich glaube auch nicht so recht daran. Sicher waren verschiedene andere Faktoren dafür verantwortlich. Ich bin sicher, ihm sind die Frauen eher weggelaufen.«
»Du meinst …«
Die Decke über ihnen bebte. Einen Moment später trampelte Matthias die Stufen herunter.
»Oliver!« Panik schwang in seiner Stimme.
Sofort meldete sich wieder das ungute Gefühl, das Kribbeln im Nacken. Oliver sprang auf und wirbelte zur Tür.
Kreidebleich hielt Matthias etwas Zappelndes unter seiner Lederjacke verborgen. Lange, braune Hasenohren zuckten an seinem Revers vorbei. Das war einer der Stallhasen.
»Was zum Teufel ist los?« Daniel sprach aus, was Oliver dachte.
Das ängstliche Tier zappelte hilflos. Matthias griff nach innen und hievte den Hasen höher.
Oliver trat zu ihm. Das ungute Gefühl manifestierte sich zu einer Faust, die ihm die Luft abdrückte.
»Warum hast du den Dicken runtergebracht?«
Matthias versuchte, das Tier ruhig zu halten. Schließlich drückte er ihn Oliver in die Arme.
Der schwere, warme Körper zitterte, aber der Hase hörte auf zu zappeln. Er kroch unter Olivers Jacke.
Armes Vieh. Behutsam drückte er den riesigen Fellknäuel an sich.
Matthias atmete auf. Während er seine Kleidung von Streu und Heu befreite, nickte er zu Oliver. »Der da ist das einzige überlebende Tier. Alle anderen, Tauben wie Hasen, sind tot.«
Olivers Herz setzte aus. »Was?«
Sie hatten doch nur für zwei Tage nichts zu fressen bekommen.
Atemlos rang Matthias nach Luft. »Du willst
Weitere Kostenlose Bücher