Der Rebell - Schattengrenzen #2
nicht minder dreckige Bett. Allein bei der Berührung kribbelte seine Haut.
Ein Stoß Bücher lag unter der Wäsche. Er ging in die Knie, um kurz über die Buchrücken zu schauen: leder- und leinengebundene Ausgaben russischer Klassiker. Sie rochen unangenehm. Dunkle Flecken zeichneten sich auf den Buchdeckeln ab. Die Seiten sahen stark zerlesen aus.
Anhand ihres Zustandes bezweifelte er, dass sie sonderlich viel wert waren. Davon abgesehen konnten sie noch nicht so alt sein. Er schlug eines der Tolstoi-Werke auf. Ausgerechnet die schwermütige Anna Karenina .
Eine mit verblasster Tinte geschriebene Widmung – in Schönschrift – stand auf der ersten Seite. Die Buchstaben wirkten wackelig, als habe sich der Schreiber bemüht, sie unter Kontrolle zu halten.
Meiner lieben Isolde als Geschenk,
Dein Tristan
Oliver blinzelte. Vor Jahrzehnten gab es offenbar genauso viele zur Kitschromantik neigende Paare, wie heute in der Twilight -Generation.
Tristan und Isolde war nun wirklich übertrieben. Ihm lief ein unangenehmer Schauder über den Rücken. Er schüttelte sich.
Unter der zuckrig süßen Widmung waren der Verlag und die Jahreszahl abgedruckt, Leipzig 1938 .
Er ließ den Band sinken und schlug einen illustrierten Gedichtband Alexander Puschkins auf. In der gleichen, verkrampften Schönschrift stand ein Name auf dem Innendeckel – Walter Egon Günther Markgraf.
Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich wieder eine Widmung in eleganten, zierlichen Buchstaben.
Liebster Tristan,
die Zeilen mit Ruslan und Ljudmila erinnern mich so sehr an uns. Ich hoffe von Herzen, dass es auch für uns ein glückliches Ende geben kann.
Wenn nicht, erinnere Dich immer an mich.
All meine Liebe für Dich,
Isolde
Tristan war also Walter in jungen Jahren. Oliver schlug das Erscheinungsdatum nach. Leider war die Ausgabe genauso alt wie Walter. Daran ließ sich nicht herleiten, wann sie ihm vererbt wurde. Aber anhand seiner Schrift musste es auch um 1938 gewesen sein. Obwohl die Zeilen nicht weniger übertrieben klangen, schwang darin ein hoffnungsloser Unterton mit. Entweder wollte seine Familie nicht, dass er mit dem Mädchen etwas zu tun hatte – obwohl sie bei solch schwerer Lektüre sicher hochgebildet sein musste – oder sie war eine Jüdin.
Eine der traurigen Liebesgeschichten zwischen einem Deutschen und einer Israelitin? Oliver ließ das Buch sinken. Möglich wäre es. Der Laden hieß vor dem Krieg Markgraf & Hirsch . Das deutete wirklich auf eine jüdische Geschäftsbeteiligung hin. Die Vermutung lag nah, dass sich Walter und dieses Mädchen in der Buchhandlung kennengelernt hatten – oder sie vielleicht mit der Frau auf dem Bild verwandt war. Gut, hierfür gab es keinerlei Hinweise, aber der Gedanke war nicht abwegig.
Er blätterte durch die anderen Bücher. In jedem Einzelnen widmeten sich »Tristan« und »Isolde« das jeweilige Werk. Leider schrieb sie nicht einmal ihren richtigen Namen in die Bücher. Ein reiner Selbstschutz in dieser mörderischen Zeit.
In jedem Fall musste »Isolde« Walter noch immer so viel bedeuten, dass er die Bücher bis heute aufbewahrte.
Walter … dieser Mann besaß weitaus mehr Facetten, als es den Anschein hatte. Er sah zu der Frisierkommode. Der beängstigend zugeklebte Spiegel war nur eine der unterdrückten Arten, mit Schmerz umzugehen.
Was fühlte Walter wirklich?
Durch seine steinerne Fassade ließ sich nicht erkennen, was in ihm vor sich ging, aber all diese Details offenbarten eine andere Person.
Aus irgendeinem Grund freute ihn die Menschlichkeit, zu der Walter fähig war. Im Lauf seines Lebens hatte Walter sicher viel Leid erlitten. Zum ersten Mal gewann er einen Eindruck des wirklichen Walters. Dieses Gefühl, ihn Stück um Stück kennen- und verstehen zu lernen, beflügelte ihn.
Er fühlte sich leicht. Wie war Walter vor siebzig Jahren, vor achtzig, wie als kleiner Junge? Vielleicht lag hier das Geheimnis seiner wechselhaften Persönlichkeit. Hoffentlich verstand er Walter. Wenn man die Zeit mit einberechnete, wäre es sicher möglich. Das brachte sie vielleicht weiter.
Oliver sah unter das Bett. Ein wuchtiger Lederkoffer klemmte zwischen Rost und Boden. Das Mistding saß ziemlich fest.
Er änderte seine Position und kroch halb unter das Bett.
Hinter ihm raschelte Stoff. Bügel kratzten auf der metallenen Kleiderstange. Das hohe Geräusch tat weh in den Ohren.
»Was machst du?«, fragte Daniel.
»Ich habe vielleicht was gefunden.«
Im selben
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