Der Rebell - Schattengrenzen #2
Irgendetwas hatte Matthias getan, um sein Geheimnis auch weiterhin zu schützen.
Vielleicht war er mit der Sichtung betraut gewesen?
Um nicht Matthias’ nächsten Wutanfall zu provozieren, schwieg er und widmete sich der Bibel. Matthias griff an ihm vorbei und blätterte die hauchdünnen Seiten durch. Eintragungen in verschiedenen Handschriften bedeckten die Blätter.
Oliver strich seine Hand weg. »Langsamer.«
Matthias knurrte unwillig. »Kannst du das lesen?«
»Mit etwas Geduld schon.« Oliver schob den Unterkiefer vor und starrte Matthias an.
Dieser verzog die Lippen. »Na dann. Ich bin gespannt.«
Oliver blätterte bis zum Stammbaum zurück. Teilweise konnte man die Buchstaben fast nicht mehr lesen, was nicht an der Tinte lag. Da alles in Schwarz verfasst worden war, ließ sich gut nachvollziehen, wohin welcher Pfad abging. Leider gab es in nahezu allen Handschriften solch übertriebene Schnörkel, dass der Stammbaum einem bizarren Kunstwerk ähnelte. Er schlug die Folgeseiten auf. Hier standen sauber aufgeführt Geburts- und Sterbedaten, Eheschließungen, Geburten und Kindstode.
Ein paar Schriften ließen sich leicht lesen, andere nur erraten. Schließlich seufzte Oliver frustriert. »Kannst du das lesen, Matthias?«
Er wiegte unschlüssig den Kopf. »Schwer. Einige Namen lassen sich aber rauskriegen.«
Oliver fuhr mit dem Zeigefinger über das erste Jahresdatum. 1811 ließ sich zumindest problemfrei erkennen. Wie es aussah, handelte es sich um ein Geburtsdatum. Der Name dahinter blieb ein Rätsel. Leider wurde nicht klar, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte. In einer anderen Handschrift war eine Hochzeit verzeichnet. In gleicher Unleserlichkeit versanken die Namen der Kinder, die zwischen 1828 und 1845 geboren worden waren. Ein recht großer Teil schien wohl das erste Lebensjahr nicht vollendet zu haben. Eines, eine Frau, hatte 1851 geheiratet und war mit dem ersten Kind 1852 niedergekommen. Kurz danach war sie gestorben. Dieses Kind war – laut Stammbaum – Walters Großvater. Auch er schien kein besonderes Glück mit seinem Nachwuchs gehabt zu haben. Außer Gustav und Rudolf Markgraf waren ihm keine Kinder geboren worden.
Neugierig blätterte Oliver weiter. Gustav Markgraf war offenbar kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Berlin gegangen und hatte dort geheiratet. Die Eintragungen über ihn blieben diffus. Sie waren nicht von Pfarrern geführt worden. Wahrscheinlich lag es daran, dass Gustav während des Krieges gefallen war.
Die Spur verlief sich also vollständig. Er seufzte.
Walters Vater, der stämmige Mann auf den Fotos, hieß Rudolf Markgraf. Seine Frau, wahrscheinlich das Mädchen auf den Bildern, hieß Erna. Sie hatten zusammen ein Kind, Walter. Oliver blätterte weiter. Diese Bibel war ein Schatz an Hinweisen zu dieser verdrehten Familie.
Auf der Folgeseite stand ein zweites Eheschließungsgelübde zwischen Rudolf Markgraf und Helene Hirsch.
Oliver blätterte zurück.
Was hatte das zu bedeuten? Ernas Geburtsdatum war verzeichnet, ihre Eheschließung mit Rudolf, aber kein Todesdatum.
Er musterte Matthias.
Verwirrt hob der die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, darüber hat meine Großmutter nichts gesagt.«
Daniel kam um das Bett herum. »Was ist?«
»Wir haben hier unsere Urgroßmutter, die plötzlich verschwindet, ohne dass ein Sterbedatum vorliegt«, sagte Matthias.
»Habt ihr mal darüber nachgedacht, dass das Ehepaar geschieden wurde?«
Oliver schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Darauf hätte er auch kommen können. »Logisch. Danach hatte der alte Markgraf eine Helene Hirsch geheiratet.«
»Die Frau von dem Foto in der Vitrine nehme ich mal an.« Daniel grinste.
»Was?« Das waren eindeutig zu viele Insiderinformationen für Matthias.
Daniel wies zum Wohnzimmer. »In der Vitrine steht eine alte Aufnahme aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Damals hieß die Buchhandlung noch Markgraf & Hirsch.«
»Wahrscheinlich sind sich die beiden während der Arbeit nähergekommen.«
Die enge Zusammenarbeit mit dieser anderen Frau hatte sicher die Trennung zwischen Rudolf und Erna bedingt. Aber solche Begebenheiten waren nichts Besonderes. Menschenschicksale, tragisch, aber leider vollkommen normal.
Matthias nickte. »Schaue ich mir gleich mal an.«
Daniels vertrautes Gewicht lastete auf Olivers Schulter, während Matthias ebenfalls Körperkontakt suchte, wenn auch nur mit einer Hand. Er zitterte deutlich.
»Alles okay mit dir?« Oliver
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