Der Rebell
Zweifellos würde er sich unbändig auf sein Enkelkind freuen. Sie eilte über den Rasen zum Obstgarten. Wie immer, wenn sie ihren Papa sah, wurde sie von heißer Liebe erfüllt. Er brauchte sie, und sie lebte gern bei ihm, trotz ihrer inneren Unruhe.
Jede Nacht wartete sie stundenlang auf den Schlaf und erinnerte sich an ihren Honigmond. Und wenn sie endlich einschlummerte, träumte sie von Ians Küssen, von seinen betörenden Liebkosungen. Zu ihrer Bestürzung vermißte sie ihn schmerzlich, den Klang seiner Stimme, den eindringlichen Blick seiner kobaltblauen Augen ...
Würde er in Washington die Frau Wiedersehen, mit der er so gut wie verlobt gewesen war? Vergeblich versuchte sie, sich einzureden, sie sei nicht eifersüchtig. Vielleicht dachte er kaum noch an sie und fühlte sich so ungebunden wie vor der Hochzeit, während sein Kind unter ihrem Herzen wuchs.
Immerhin schrieb er ihr jeden Monat und übergab die Briefe den Soldaten, die auf dem Weg zum Fort Taylor an der Insel vorbeisegelten. Die wenigen Zeilen wirkten höflich und distanziert. Offenbar war ihm inzwischen bewußt geworden, welche Dummheit er begangen hatte. Aber für einen McKenzie kam eine Scheidung natürlich nicht in Frage.
Auch Sydney, die in Charleston geblieben war, schrieb ihr manchmal und berichtete von beunruhigenden Ereignissen. Offensichtlich waren die Politiker von South Carolina fest entschlossen, die >Tyrannei< der Union abzuschütteln, sollte der Emporkömmling Lincoln zum Präsidenten gewählt werden. Der jetzige Präsident Buchanan tat wenig, um die Situation zu entschärfen und das heikle Problem der Sklaverei zu lösen.
Neulich hatte Alaina einen Brief ihres Schwagers Julian erhalten, der ihr mitteilte, die Freiwilligenmiliz in St. Augustine würde sich zusehends verstärken und zum Kampf rüsten. Florida steuerte aufregenden, revolutionären Zeiten entgegen.
Darum machte sich Teddy keine Sorgen. Immer wieder betonte er, sie dürften sich glücklich schätzen, weil sie so weit von den Krisenherden entfernt lebten. Da er ein Realist war, rechnete er mit einem Krieg.
Als Alaina jetzt zu ihm ging, erschrak sie über einen schrillen Vogelschrei, der sie wieder frösteln ließ, trotz des warmen Sonnenscheins. Von einer plötzlichen bösen Ahnung erfüllt, schaute sie zum Himmel hinauf.
Jerome hatte Alaina und ihren Vater zur Vorsicht ermahnt. Und sie nahmen sich wohlweislich in acht. Jeden Abend postierte Teddy zwei Wächter in der Nähe des Hauses. Der Schrank im Arbeitszimmer enthielt geladene Gewehre und Alainas Florette.
Aber sie wagte nicht, zurückzulaufen und sich zu bewaffnen. Das würde zuviel Zeit kosten, falls ihr Vater in Gefahr schwebte.
Sollte es tatsächlich Schwierigkeiten geben, würde Jennifer, eine erprobte Scharfschützin, ein Gewehr holen. Der Vogel kreischte wieder, und die Luft schien zu knistern.
»Papa?« Alaina beschleunigte ihre Schritte.
Plötzlich sprangen zwei Männer zwischen den Limonenbäumen hervor und rannten zu den Untiefen, die Belamar Isle vom Festland trennten. Sie bewegten sich ungeschickt und schwerfällig, und sie trugen dunkle, zerlumpte Kleidung. In ihre bärtigen Gesichter hing langes, verfilztes Haar.
Entsetzt hielt Alaina den Atem an, als sie erkannte, was die Flucht der beiden behinderte. Ketten umgaben ihre Handgelenke und Fußknöchel. Aber die verbindenden Eisenglieder waren zertrümmert. Klirrend knirschten die Fesseln, während die Männer zum Ufer hasteten, und das Geräusch klang so bedrohlich wie das gellende Vogelgeschrei. Wie festgewurzelt blieb Alaina stehen und starrte den beängstigenden Gestalten nach.
Dann hörte sie Stimmen aus der Richtung der Bucht und drehte sich um. Das kleine Boot, das Jennifer entdeckt hatte, lag im seichten Wasser. Drei Soldaten stiegen aus und wateten an Land.
»Halt!« brüllte einer.
Doch die entlaufenen Sträflinge ignorierten den Befehl und eilten weiter.
»Was in Gottes Namen ...«, stieß Teddy McMann ärgerlich hervor.
Sein Ruf wurde von krachenden Schüssen übertönt. Auch die Männer in Ketten waren bewaffnet, duckten sich instinktiv und erwiderten das Feuer.
»Um Himmels willen, hören Sie auf!« flehte Alaina.
Aber die Soldaten schossen eine Kugel nach der anderen ab. Eifrig bestrebt, die Flüchtlinge einzufangen, bemerkten sie nicht, daß Teddy McMann und seine Tochter ins Kreuzfeuer geraten waren.
»Was für ein wundervoller Tag«, meinte Ian. Nur mit seinen Breeches bekleidet, saß er im Heck von Jeromes kleinem
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