Der Rebell
unentwegt verfolgt, wäre sie sogar glücklich gewesen. Hier durfte sie mit der rückhaltlosen Unterstützung ihrer Landsleute rechnen, und es befriedigte sie, der großen revolutionären Sache zu dienen.
Aber die Nächte waren eine einzige Qual. Sie hatte Ian verlassen, und sie wußte nicht, wo er sich aufhielt, was er empfand, ob er ihr jemals verzeihen — und ob sie ihn jemals Wiedersehen würde.
»Wie herrlich warm es hier ist«, seufzte Lilly zufrieden. »Und diese schöne Straße.«
»Ja, sehr schön«, bestätigte Alaina und betrachtete die alten spanischen Häuser. Auch in Charleston und Richmond, dem Sitz der neuen Regierung, hatte sie sich wohl gefühlt und einmal sogar eine Soiree im Weißen Haus der Konföderierten Staaten besucht. An jenem Abend hatte Präsident Davis ihr persönlich für die wertvollen Dienste am Vaterland gedankt. Angesichts der Stimmung, die in beiden Städten herrschte, schien es unmöglich, daß der Süden den Krieg verlieren könnte.
Es war wundervoll gewesen, Sydney und Brent wiederzusehen, und erschreckend einfach, die beiden zu belügen. Da Ian nur mehr selten nach Washington komme, habe sie sich in der gefährlichen Hauptstadt nicht mehr sicher gefühlt. Diese Geschichte wollte sie auch Julian erzählen.
Sekundenlang schloß sie die Augen, lauschte fernen Hufschlägen und spürte den Sonnenschein, die Meeresbrise. Das Gefühl, endlich wieder heimische Luft einzuatmen, erwärmte ihr Herz.
»Alaina!«
Verwirrt drehte sie sich um und sah Julian vom Kutschbock eines kleinen Wagens springen. Beinahe mußte sie mit den Tränen kämpfen. Wie ähnlich er seinem Bruder sah ... Sie eilte ihm entgegen, warf sich in seine Arme, und er wirbelte sie im Kreis herum. »Was machst du denn hier, junge Dame?« fragte er und stellte sie auf die Füße. »Soviel ich weiß, hat dir mein großer Bruder nicht erlaubt, Washington zu verlassen.«
»Dein großer Bruder war nicht in Washington«, erwiderte sie ärgerlich. »Und die Südstaatler können sich in der Hauptstadt nicht mehr sicher fühlen.«
»Oh! Die Südstaatler — oder die verdächtigen Südstaatler?«
»Sei nicht albern, Julian. Und vergiß nicht, daß Ian ein Yankee ist, während du ...« Sie trat zurück und musterte seine hübsche graue Uniform. »Du bist ein Rebell.«
»Gut, wir wollen nicht streiten. Jetzt will ich dich erst einmal nach Hause bringen. Willkommen, Lilly! Das muß Sean sein. Wie groß er schon ist! Ich kann's kaum erwarten, meinen Eltern ihr erstes Enkelkind zu präsentieren. Sie werden so stolz auf ihn sein.«
Lächelnd nickte Alaina, dankbar für den herzlichen Empfang, den Julian ihr bereitete. Was für ein seltsames Gefühl — der Bruder ihres Mannes und ihres Feindes ...
Am ersten Abend, den sie in Julians Gästehäuschen verbrachte, schrieb sie einen Brief an Ian. Obwohl sie versuchte, ihm ihr Herz auszuschütten, wirkten ihre Worte hölzern und nichtssagend.
Wieder einmal beteuerte sie, ihn zu lieben. Aber er würde ihr wohl kaum glauben. Inzwischen mußte sich das Gerücht über ihre Spionage in ganz Washington verbreitet haben. Julian leitete den Brief weiter. Inständig hoffte sie, Ian würde ihn erhalten.
Sie half ihrem Schwager im Lazarett, wo er Kranke und Verwundete betreute. Abends behandelte er die Zivilbevölkerung von St. Augustine. Die Arbeit befriedigte Alaina und lenkte sie von trüben Gedanken ab.
Etwa eine Woche nach ihrer Ankunft traf die stark dezimierte Besatzung des Konföderiertenschiffs Annie May ein, eines Blockadebrechers, den die US-Navy auf hoher See zerstört hatte. Die meisten Männer waren gefangengenommen worden. Aber einige hatten fliehen können. Nun lagen sie, zum Teil schwer verletzt, im Lazarett.
Während Alaina ihrem Schwager von einem Bett zum anderen folgte, sah sie entsetzt die grausigen Folgen des Blutvergießens. Beim Anblick der eiternden Wunden wäre sie fast in Ohnmacht gefallen.
Aber sie riß sich zusammen, stoppte und desinfizierte die Blutungen, damit Julian die Wundränder zusammennähen konnte, wusch die verletzten Soldaten und wechselte die Verbände. Nachdem die zehn Überlebenden mit der Hilfe Julians und anderer Ärzte das Schlimmste überstanden hatten, schrieb sie deren Angehörigen.
An diesem Abend dinierten Julian, Alaina und Dr. Reginald C. Percy in einem Gasthof nahe dem Fort Marion. Percy, ein etwa sechzigjähriger würdevoller Arzt, hatte vor der Sezession in der US-Army gedient. In all den Jahren sei ihm niemals ein so guter
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