Der Regen in deinem Zimmer - Roman
folge ihm unter den Säulengang vor der Schule. Als wir stehen bleiben, vergräbt er zerknirscht die Hände in den Jeanstaschen und bittet mich für das, was im Mouse passiert ist, um Verzeihung, er habe zu viel getrunken und wisse nicht, was in ihn gefahren sei. »Das ist alles«, sagt er, »nichts Großartiges. Ich wollte nur nicht, dass du mich für ein Arschloch hältst. Normalerweise führe ich mich nicht so auf, entschuldige.« Ich nicke betreten und weiß nicht, was ich sagen soll. Irgendwie ist es fast besser, wenn er sich wie ein Arschloch aufführt, dann weiß man wenigstens, woran man ist. Ich beschließe, die Sache kurz zu halten und sage, es sei schon in Ordnung. »Kommt vor, man trinkt zu viel und benimmt sich daneben.« Ich versuche, verständnisvoll zu lächeln, doch es fällt ziemlich gequält aus. Ich blicke mich um, ob Sonia oder Gabriele in der Nähe sind. Mit Sonias Eifersucht ginge die Nachbohrerei von vorne los, und was Gabriele angeht, will ich einfach nicht, dass er uns zusammen sieht.
Ich nehme seine Entschuldigung an, auch wenn sie mir nicht durch und durch geheuer ist. »Ich weiß, dass du mir nicht glaubst«, sagt er plötzlich, als hätte er meine Gedanken gelesen, »aber was soll’s. Ich wollte es dir einfach sagen.« Dann streicht er mir über die Wange und geht davon. Einen Moment lang stehe ich da wie vom Donner gerührt, dann fängt mein Hirn wieder an zu ticken. Diese kleine, zärtliche Geste war so schnell und flüchtig, dass ich mich frage, ob sie überhaupt stattgefunden hat. Ich verstehe überhaupt nichts mehr: Gabriele ist fast zum Klassengenie aufgestiegen, Giovanni istvom Arschloch zum Büßer mutiert. Was ist los, ist die Welt plötzlich wieder in Ordnung? Stehe nur ich auf dem Kopf?
Auf dem Weg zum Roller schmeißt sich mir Ilaria fast an den Hals und – hört, hört! – lädt mich mit Honigstimme und Mickeymausblick zu ihrer Geburtstagsparty ein. Okay, denke ich, das ist zu viel für einen Tag. Höflich lehne ich ab, mein Abo im Club der Hyänen ist schon lange abgelaufen, und rase nach Hause. Als ich hereinkomme, steht da ein riesiger Weihnachtsbaum, der fast die ganze Diele einnimmt, und daneben meine Großmutter, die mit Schleifen, bunten Glassternen und Krippenfiguren hantiert. Zerzaust und wuschig steht sie da und sieht so zerbrechlich aus, dass es mir einen Stich versetzt. Den letzten Weihnachtsbaum hat sie zusammen mit ihrer Tochter geschmückt. Sie ging um den Baum herum und verteilte den Schmuck, während ihr meine Mutter, auf einem Stuhl sitzend, Kugeln und Schleifen zureichte. So hatte ich sie angetroffen, als ich vor fast genau einem Jahr nach Hause gekommen war.
»Brauchst du Hilfe?«, frage ich. »Das mach ich schon«, entgegnet sie sanft und streicht mir über die Wange. Noch eine zärtliche Geste, die zweite an diesem Glückstag, und ich kann nicht umhin, an die erste zu denken. Giovannis Entschuldigung klang aufrichtig, das sollte ich anerkennen.
Ich überlasse Nonna der Christbaumdekoration. Auf dem Weg in mein Zimmer werfe ich einen Blick in den Karton: ein bunt glitzerndes Wirrwarr aus Schmuck und Schleifen. Ich erinnere mich noch, dass sich der Zustand meiner Mutter wenige Tage nach Weihnachten derart verschlechtert hatte, dass wir den Christbaum regelrecht hatten verschwinden lassen. Dieses Knäuel bringt die ganze Angst jener Tage zurück, indenen man nur auf das Ende wartete. Fast will ich Nonna sagen, sie solle alles sein lassen: den Baum, die Erinnerungen, Weihnachten. Doch vielleicht wäre es besser, ihr beim Tragen dieser Last zu helfen.
Ich ziehe mir Jacke und Schal aus, knie mich vor die Kiste und mache mich schweigend daran, das Gewirr aus buntem Flitter aufzudröseln. Sie sieht mich lächelnd an. Es ist wie an dem Tag, als wir den Friedhof verließen, sie und ich vereint in einem Schmerz, der uns die Sprache verschlägt.
Nach dem Mittagessen wird mir bewusst, dass sich vor mir Tage der Leere auftun. Also schwinge ich mich auf den Roller und fahre los. Ich brauche Luft und Licht um mich herum. Es ist ein wunderschöner Tag. Ich gebe mich der Wehmut wie einer Quelle ewigen Lebens hin und denke, dass ich nie mehr glücklich sein werde.
Letzte Nacht habe ich von dir geträumt
Du standest auf einer großen Terrasse und blicktest zu mir herunter. Die Sonne blendete mich, und ich konnte nur dein Lächeln sehen. Du warst wunderschön. Das Haar umrahmte dein Gesicht wie auf dem Schulfoto, das du mir einmal gezeigt hast. Ich musste dich
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