Der Regen in deinem Zimmer - Roman
immerfort ansehen. Du lächeltest, doch ich konnte deine Augen nicht sehen. Dann saßen wir plötzlich nebeneinander auf dem Boden der großen Terrasse. Der Himmel über uns war strahlend blau. Es war wunderbar, wieder bei dir zu sein. Ich wusste, es ist ein Traum, und dennoch erschien alles so wirklich. Beim Aufwachen habe ich ganz kurz daran festgehalten, und das Glück ist mir wie eine silberne Revolverkugel ins Herz gedrungen und hat mich getötet.
Wenn ich die Augen schließe und versuche, dich mir ins Gedächtnis zu rufen, gelingt mir das nicht so wie im Traum. Du warst vollkommen. Könnte ich träumen, wenn es nottäte, wäre es vielleicht nicht so schmerzhaft.
Abgesehen von dem Video, das Großvater an meinem Geburtstag gemacht hat, habe ich nur Fotos von dir, und will ich mich an dein Gesicht oder deine Stimme erinnern, stelle ich bestürzt fest, dass bereits wenige Monate nach deinem Tod etwas verlorengegangen ist. Ich will alles von dir im Gedächtnis behalten, doch es sind die alltäglichen Gesten, die mir fehlen, das, was mir dich wieder lebendig erscheinen lassen würde und den sanften Schimmer deiner Gegenwart bedingte:dein Ciao in der Tür; die Art, wie du deinen Dufflecoat zuknöpfst; wie du innehältst, um zu überlegen, was du zu erledigen hast, und nach dem Schlüssel auf der Kommode im Eingang greifst. Die nutzlosen Dinge, die aussortierten Einzelbilder.
23. Dezember
Erster Ferientag: Plötzlich ist da die Leere, eine Ansammlung von Stunden, von denen ich nicht weiß, wie ich sie füllen soll, während mir ganz allmählich die Einsamkeit zur zweiten Haut wird. Nonna und ich sind wie die Teile einer unvollständigen Matrjoschka, die Wohnung ist zu groß für uns zwei. Jede tut so, als wäre sie mit ihrem Kram beschäftigt. Zwei kleine, fleißige, geschäftige Bienen, die allein und ohne Hilfe im Bienenstock zurückgeblieben sind.
Manchmal ist die Beklemmung unerträglich, und oft muss ich an den schlimmsten Fall denken: Wenn meiner Großmutter etwas zustoßen sollte, bliebe ich ganz allein zurück. Sie ist vierundsechzig, meine Angst ist also nicht unbegründet. Ich versuche, nicht daran zu denken, doch allein die Ahnung schreckt mich, ich kann noch nicht allein zurückbleiben. Zwar sind da noch Angela und Claudia, die mich sehr lieben, doch das ist nicht das Gleiche.
Abgesehen von meinem allzu früh gestorbenen Großvater, haben wir stets ohne Männer gelebt. Immer und ausschließlich wir drei: ich, meine Mutter, meine Großmutter in einem ständigen Gegenüber von Generationen und Gemütsarten: die Strenge meiner Großmutter, der Überschwang meiner Mutter und mein verschlossenes Schweigen.
Ich weiß, dass mein Großvater uns gut versorgt zurückgelassen hat und es an Geld nie fehlte. Meine Mutter und ich konnten uns stets alles Mögliche leisten, und auch als Mamaihren Job verlor, war das zwar nicht erfreulich, aber keine Katastrophe.
Drei Frauen in ihrem Nest und alle Tage Brot und warme Milch.
Wenn dann noch Angela und Claudia kamen, war es wie in diesem alten Film Hoffen wir, dass es ein Mädchen wird . Das Haus füllte sich mit Stimmen, Absatzgeklapper und schmeichelnden Düften. Auf dem Küchentisch lagen Claudias Zigaretten und Angelas zwei Handys, barfuß, in Nonnas Stola gehüllt, kam meine Mutter herein, machte Kaffee, und schon war eine jener endlosen Unterhaltungen im Gange, die unsere Wohnung in den schönsten Ort der Welt verwandelten. Von meinem Zimmer aus hörte ich Gelächter, spürte ihre ansteckende Fröhlichkeit und fühlte mich wohl.
Angela und Claudia waren seit Uni-Zeiten die besten Freundinnen meiner Mutter. Angela kommt aus einer schwerreichen Familie und geht mit der Selbstgewissheit durchs Leben, dass selbst die Steine sich dankbar zeigen sollten, von ihren Füßen betreten zu werden. Sofort nach der Uni hat sie geheiratet und sich zwei Jahre später wieder scheiden lassen. Seitdem hatte sie diverse Freunde, die ihr laut meiner Mutter nie viel bedeuteten. Das Wichtigste ist, nicht auf der Stelle zu stehen, sagt sie immer.
Claudia stammt aus einer ganz normalen Familie, ist aber außergewöhnlich schön. Sie gehört zu den Frauen, vor denen Männer in die Knie gehen. Langes, blondes Haar, geschmeidiger Körper, unfassbare graue Augen. Es gibt keinen Mann, der sich nicht Hals über Kopf in sie verliebt und aus unerfindlichen Gründen genauso schnell abserviert wird, wie er auserwählt wurde. Claudia wechselt Männer und Jobs wie ein Engel,der gänzlich
Weitere Kostenlose Bücher