Der Regenmacher
soweit es ihr möglich ist, gerade genug, daß ich ihre Schneidezähne sehen kann. »Nichts gebrochen?« frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. Ich berühre den Verband über ihrem zugeschwollenen Auge. »Wie viele Stiche?«
»Sechs.«
Ich beuge mich noch weiter vor und drücke ihre Hände. »So etwas wird nie wieder passieren, verstanden?«
Sie nickt und flüstert: »Versprichst du das?«
»Ich verspreche es.«
Robin kehrt auf ihren Platz neben Kelly zurück und gibt mir die Karte. Sie hat noch einen guten Rat. »Hören Sie, Mr. Baylor, Sie kennen Cliff nicht, aber ich kenne ihn. Er ist verrückt und verschlagen und unberechenbar, wenn er getrunken hat. Seien Sie bitte vorsichtig.«
»Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Er könnte jetzt draußen stehen und dieses Haus beobachten.«
»Ich habe keine Angst.« Ich stehe auf und küsse Kelly abermals auf die Stirn. »Ich reiche morgen früh die Scheidung ein. Dann komme ich und hole dich ab. Ich stecke mitten in einem großen Prozeß, aber das geht vor.«
Robin bringt mich zur Tür, und wir danken uns gegenseitig. Die Tür wird hinter mir zugemacht, und ich lausche den Geräuschen von Kette, Schloß und Riegel.
Es ist fast ein Uhr. Die Luft ist klar und sehr kalt. Niemand lauert in den Schatten.
An Schlaf ist nicht mehr zu denken, also fahre ich ins Büro. Ich parke am Bordstein direkt unter meinem Fenster und renne zur Haustür des Gebäudes. Dies ist nachts alles andere als eine sichere Gegend.
Ich schließe die Tür hinter mir ab und gehe in mein Büro. So schrecklich die Umstände auch sein mögen, eine Scheidung ist im Grunde eine recht simple Angelegenheit, zumindest juristisch. Ich fange an zu tippen, eine Beschäftigung, die mir schwerfällt, aber der Zweck der Sache erleichtert die Arbeit. Ich bin fest davon überzeugt, daß ich in diesem Fall mithelfe, ein Leben zu retten.
Deck erscheint gegen sieben und weckt mich. Irgendwann nach vier bin ich auf meinem Stuhl eingeschlafen. Er sagt mir, daß ich müde und mitgenommen aussehe, und was ist aus der guten Nachtruhe geworden?
Ich erzähle ihm die Geschichte, und er reagiert sauer. »Sie haben die Nacht damit verbracht, an einer dämlichen Scheidung zu arbeiten? Und das, wo Sie in zwei Stunden Ihr Schlußplädoyer halten müssen?«
»Immer mit der Ruhe, Deck. Ich werde es schon hinkriegen.«
»Und wieso das Grinsen?«
»Wir werden Great Beneft in die Pfanne hauen.«
»Nein, das ist es nicht. Sie bekommen endlich die Frau, deshalb lächeln Sie.«
»Unsinn. Wo ist mein Kaffee?«
Deck zuckt und zappelt. Er ist ein nervöses Wrack. »Ich hole ihn«, sagt er und verläßt mein Büro.
Die Scheidungsklage liegt auf meinem Tisch, fertig zum Einreichen. Ich werde einen Zusteller damit beauftragen, sie meinem Freund Cliff auszuhändigen, während er bei der Arbeit ist; sonst könnte er schwer aufzufinden sein. Die Klage enthält auch einen Antrag auf eine sofortige einstweilige Anordnung, sich von ihr fernzuhalten.
49
Daß ich ein Anfänger bin, hat einen großen Vorteil: Man rechnet damit, daß ich nervös und unsicher bin. Die Geschworenen wissen, daß es mir an jeglicher Erfahrung mangelt. Die Erwartungen sind also gering. Ich habe weder die Fähigkeiten noch das Talent, ein großartiges Plädoyer zu halten.
Es wäre ein Fehler, etwas zu versuchen, das ich nicht kann. In späteren Jahren, wenn mein Haar grau ist und meine Stimme geschmeidig und ich Hunderte von Auftritten vor Gericht hinter mir habe, kann ich vielleicht vor eine Jury hintreten und eine glanzvolle Vorstellung geben. Aber nicht heute. Heute bin ich nur Rudy Baylor, ein unsicherer junger Mann, der seine Freunde auf den Geschworenenbänken um Hilfe bittet.
Ich stehe vor ihnen, ziemlich nervös und angespannt, und versuche, ein wenig lockerer zu sein. Ich weiß, was ich sagen will, weil ich es schon hundertmal gesagt habe. Aber es ist wichtig, daß es sich nicht geprobt anhört. Ich fange damit an, daß ich erkläre, dies sei ein sehr wichtiger Tag für meine Mandanten, weil es ihre einzige Chance sei, Great Benefit zur Rechenschaft zu ziehen. Es gibt kein Morgen, keine zweite Chance vor Gericht, keine zweite Jury, die darauf wartet, ihnen helfen zu können. Ich fordere sie auf, an Dot zu denken und an das, was sie durchgemacht hat. Ich rede ein wenig über Donny Ray, ohne übermäßig dramatisch zu werden. Ich fordere die Geschworenen auf, sich vorzustellen, wie es ist, wenn man langsam und unter Schmerzen stirbt und dabei weiß, daß
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