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Der Regenmacher

Der Regenmacher

Titel: Der Regenmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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und ihre Augen werden sofort wieder feucht. »Ein häuslicher Unfall«, sagt sie, als hätte sie diese vage Erklärung einstudiert.
    Was zum Teufel soll das bedeuten? Ein häuslicher Unfall? Ist sie die Treppe hinuntergefallen?
    »Oh«, sage ich, als wäre alles völlig klar. Ich mache mir Gedanken über die Handgelenke, weil sie beide verbunden sind und nicht in Gips stecken. Sie scheinen nicht gebrochen oder verstaucht zu sein. Vielleicht Schnittwunden.
    »Das ist eine lange Geschichte«, murmelt sie zwischen zwei Schlucken und wendet den Blick ab.
    »Seit wann sind Sie schon hier?« frage ich.
    »Seit zwei Tagen. Sie wollen erst sehen, ob der Nagel richtig sitzt. Wenn nicht, müssen sie das Ganze wiederholen.« Sie hält inne und spielt mit ihrem Strohhalm. »Ist das hier nicht ein merkwürdiger Ort zum Lernen?« fragt sie.
    »Durchaus nicht. Es ist ruhig hier. Es gibt massenhaft Kaffe. Ist die ganze Nacht geöffnet. Sie tragen einen Ehering.« Diese Tatsache hat mich mehr gepeinigt als alles andere.
    Sie betrachtet ihn, als wäre sie nicht sicher, ob er noch an ihrem Finger steckt. »Ja«, sagt sie und starrt auf ihren Strohhalm. Es ist ein ganz schlichter Ring, ohne Diamant.
    »Und wo ist Ihr Mann?«
    »Sie stellen eine Menge Fragen.«
    »Ich bin Anwalt, jedenfalls fast. Fragen stellen gehört zur Ausbildung.«
    »Und weshalb wollen Sie das wissen?«
    »Weil es seltsam ist, daß Sie allein hier im Krankenhaus sind, ganz offensichtlich verletzt, und er ist nicht bei Ihnen.«
    »Er war früher am Tage hier.«
    »Und jetzt ist er zu Hause bei den Kindern?«
    »Wir haben keine Kinder. Und Sie?«
    »Nein. Keine Frau, keine Kinder.«
    »Wie alt sind Sie?«
    »Sie stellen eine Menge Fragen«, sage ich mit einem Lächeln. Ihre Augen funkeln. »Fünfundzwanzig. Und wie alt sind Sie?«
    Sie denkt eine Sekunde darüber nach. »Neunzehn.«
    »Das ist mächtig jung, um schon verheiratet zu sein.«
    »Mir blieb nichts anderes übrig.«
    »Oh, tut mir leid.«
    »Das ist nicht Ihre Schuld. Ich wurde schwanger, als ich knapp achtzehn war, habe kurz darauf geheiratet, hatte eine Woche nach der Hochzeit eine Fehlgeburt, und seither ist es bergab gegangen. Befriedigt das Ihre Neugierde?«
    »Nein. Ja. Tut mir leid. Worüber möchten Sie reden?«
    »Übers College. Wo haben Sie das College besucht?«
    »In Austin Peay. Jurastudium an der Memphis State.«
    »Ich wollte immer aufs College gehen, aber es wurde nichts daraus. Stammen Sie aus Memphis?«
    »Ich bin hier geboren, aber in Knoxville aufgewachsen. Und woher kommen Sie?«
    »Aus einer kleinen Stadt, eine Stunde von hier. Wir sind von dort weg, als ich schwanger wurde. Meiner Familie war das alles nur peinlich. Es war Zeit, zu verschwinden.«
    Hier brodelt eine ziemlich unerfreuliche Familienangelegenheit direkt unter der Oberfläche, und ich würde mich gern heraushalten. Sie hat ihre Schwangerschaft zweimal erwähnt, und beide Male hätte sie es vermeiden können. Aber sie ist einsam, und sie möchte reden.
    »Also sind Sie nach Memphis gezogen?«
    »Wir sind nach Memphis durchgebrannt, ließen uns von einem Friedensrichter trauen, eine tolle Zeremonie, und dann verlor ich das Baby.«
    »Was tut Ihr Mann?«
    »Fährt einen Gabelstapler. Und trinkt eine Menge. Er ist ein Versager, der immer noch davon träumt, in der Oberliga Baseball zu spielen.«
    Soviel hatte ich gar nicht wissen wollen. Ich stelle mir vor, daß er an der High-School eine Sportgröße war und sie die allerreizendste Cheerleaderin, das amerikanische Traumpaar, außergewöhnlich gutaussehend, außergewöhnlich hübsch, außergewöhnlich sportlich, und auf Erfolg programmiert, bis sie eines Nachts das Kondom vergaßen. Das Unheil bricht herein. Aus irgendeinem Grund entscheiden sie sich gegen eine Abtreibung. Vielleicht machen sie die High-School zu Ende, vielleicht auch nicht. Sie flüchten vor der Schande in die Anonymität der Großstadt. Nach der Fehlgeburt verblaßt die Romanze, und sie wachen auf und müssen erkennen, daß das wirkliche Leben angefangen hat.
    Er träumt noch immer von Geld und Ruhm in der Oberliga. Sie sehnt sich nach den sorglosen Jahren, die erst so kurze Zeit zurückliegen, und träumt weiter von dem College, das sie nie besuchen wird.
    »Tut mir leid«, sagt sie. »Das hätte ich nicht sagen sollen.«
    »Sie sind immer noch jung genug, um aufs College zu gehen.«
    Mein Optimismus bringt sie kurz zum Lachen, als hätte dieser Traum sich vor langer Zeit selbst begraben. »Ich habe

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