Der Regenmacher
Büros sind modern, es herrscht Hochbetrieb, und das seltsamste an der Kanzlei ist, daß alle Mitarbeiter schwarz sind. Ich habe in den letzten Monaten eine ganze Menge Kanzleien aufgesucht, und ich kann mich nur an eine schwarze Sekretärin und keinen schwarzen Anwalt erinnern. Hier dagegen ist kein weißes Gesicht zu sehen.
Booker führt mich kurz herum. Obwohl Lunchzeit ist, läuft der Betrieb auf vollen Touren. Computer, Kopierer, Faxgeräte, Telefone, Stimmen – auf den Fluren herrscht beträchtlicher Lärm. Die Sekretärinnen essen an ihren Schreibtischen, die ausnahmslos mit Stapeln von eiliger Arbeit bedeckt sind. Die Anwälte und Anwaltsgehilfen sind recht freundlich, aber sichtlich in Eile. Alle unterliegen einer strengen Kleiderordnung – dunkle Anzüge und weiße Hemden für die Männer, schlichte Kleider für die Frauen, keine grellen Farben, keine Hosen.
Vor meinen Augen rasen Bilder von der Kanzlei von J. Lyman Stone vorbei. Ich verdränge sie.
Booker erklärt, daß Marvin Shankle ein strenges Regiment führt. Er ist immer wie aus dem Ei gepellt, in jeder Hinsicht ein ausgemachter Profi, arbeitet praktisch Tag und Nacht und erwartet von seinen Partnern und Angestellten dasselbe.
Der Konferenzraum liegt in einer stillen Ecke. Ich war für den Lunch zuständig, also packe ich ein paar Sandwiches aus, die ich unterwegs bei Yogi’s geholt habe. Kostenlose Sandwiches. Wir unterhalten uns höchstens fünf Minuten über Familie, Fakultät und Freunde. Er stellt ein paar Fragen über meinen Job, aber er weiß, daß er sich zurückhalten muß. Ich habe ihm schon alles erzählt. Fast alles. Ich möchte nicht, daß er etwas über meinen neuen Außenposten in St. Peter’s oder meine Aktivitäten dort erfährt.
Booker ist so wahnsinnig anwaltlich geworden. Nach der zugestandenen Zeit für Geplauder schaut er auf die Uhr, dann ergeht er sich über den prachtvollen Nachmittag, den er für uns geplant hat. Wir werden sechs Stunden nonstop lernen, mit kurzen Kaffee-und Toilettenpausen, und um achtzehn Uhr müssen wir draußen sein, weil dann jemand anders diesen Raum braucht.
Von Viertel nach zwölf bis halb zwei repetieren wir die Bundeseinkommensteuergesetze. Booker besorgt den größten Teil des Redens, weil er ein besseres Gespür für Steuern hat. Wir arbeiten nach Examensrepetitorien, und das Steuerrecht ist genauso undurchdringlich wie im letzten Herbst.
Um halb zwei erlaubt er mir, auf die Toilette zu gehen und Kaffee zu holen, und dann übernehme ich bis halb drei den Ball und renne damit durch die Bundesvorschriften über die Beweisaufnahme. Ungeheuer aufregend. Bookers hohe Oktanzahl ist ansteckend, und wir nieten das langweilige Zeug nur so durch.
Bei der Zulassungsprüfung durchzufallen ist ein Alptraum für jeden jungen Anwaltsanwärter; aber ich bin mir sicher, daß es für Booker besonders katastrophal wäre. Für mich wäre es offen gestanden nicht das Ende der Welt. Es würde meinem Ego einen schweren Dämpfer versetzen, aber ich würde es verkraften. Ich würde angestrengter lernen und es nach sechs Monaten noch einmal versuchen. Bruiser würde es nicht kümmern, solange ich jeden Monat ein paar Mandanten an Land ziehe. Ein guter Fall mit schweren Verbrennungen, und Bruiser würde nicht einmal von mir erwarten, daß ich einen zweiten Versuch unternehme.
Aber Booker könnte in Schwierigkeiten geraten. Ich vermute, Mr. Marvin Shankle würde ihm das Leben zur Hölle machen, wenn er beim ersten Mal durchfällt. Fällt er zweimal durch, dann ist er vermutlich Geschichte.
Um genau halb drei betritt Marvin Shankle den Konferenzraum, und Booker stellt mich ihm vor. Er ist Anfang Fünfzig, sehr fit und elegant. Sein Haar ist um die Ohren herum leicht angegraut. Er hat eine sanfte Stimme, aber einen durchdringenden Blick. Marvin Shankle entgeht nichts. In Juristenkreisen im Süden ist er eine Legende, und ich fühle mich geehrt, ihn kennenzulernen.
Booker hat einen Vortrag arrangiert. Fast eine Stunde lang hören wir aufmerksam zu, wie Shankle uns mit der Rechtsprechung in Bürgerrechtsfragen im allgemeinen und der Diskriminierung bei der Vergabe von Arbeitsplätzen im besonderen vertraut macht. Wir machen uns Notizen, stellen ein paar Fragen, aber die meiste Zeit hören wir einfach nur zu.
Dann verschwindet er zu einer Konferenz, und wir verbringen die nächste halbe Stunde allein und ackern uns durch Antitrust-Gesetze und Kartellrecht. Um vier folgt eine weitere Lektion.
Unser nächster
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