Der Regler
Jedlitschka hatte sofort von einer Kammer in der Maschinenhalle gesprochen, und aus ihrer Stimme war ein wenig Stolz herauszuhören gewesen. In dieser Sache war sie offenbar gern seine Verbündete. Bauern mochten das Finanzamt nicht.
Sie hatte Tretjak jetzt erreicht, gab ihm die Hand und sagte mit Blick auf die Koffer: »Ganz schön viel Zeug, was Sie da verstecken müssen.«
Die Kammer war ein Holzverschlag hinter dem großen Ferguson-Traktor. Rechts waren Reifen gestapelt, in ganz unterschiedlichen Größen. Links lehnten lange Stangen an der Wand, Verlängerungen für Werkzeuge, Gelenkwellen für Maschinen, eine Anhänger-Deichsel. Die Koffer des Reglers fanden ihren Platz in der Ecke hinter den Reifenstapeln und wurden von einer alten schwarzen Silo-Plane zugedeckt. »Ich muss noch etwas arbeiten, Frau Jedlitschka, darf ich …«
»Freilich«, die Bäuerin lächelte, »gehen Sie hinter, ich bring einen Apfelsaft.«
Minuten später saß Tretjak am Holztisch im Schatten seiner Sternwarte auf der Rückseite der Maschinenhalle, vor sich seinen Laptop, einen Stapel weißes Papier, einen Stift und eine Karaffe mit selbstgepresstem Apfelsaft. Es war vollkommen still. Einem unbeteiligten Beobachter wäre die Szene vielleicht friedlich vorgekommen, doch dieses Wort war gänzlich ungeeignet, um Tretjaks Zustand zu beschreiben. Er war ausgesprochen unruhig, hatte das Gefühl, dass sich da draußen Unheil gegen ihn zusammenbraute, dass ihm die Zeit davonlief. Er wusste, dass er etwas tun musste. Er musste diese sonderbare Lähmung abstreifen, die ihn befallen hatte. War das nicht immer seine Stärke gewesen? Schneller zu handeln als die anderen? Ihnen immer einen Schritt voraus zu sein? Irgendwie war er ins Hintertreffen geraten, das musste er ändern, und zwar schleunigst.
Er nahm ein Blatt vom Papierstapel, legte es quer vor sich und schrieb oben vier Worte nebeneinander:
Geldkoffer
,
Vater
,
Kerkhoff
und
Kufner
. Von jedem dieser Worte zeichnete er einen senkrechten Pfeil nach unten. Am Ende des Pfeils unter dem Wort
Geldkoffer
notierte er:
Dimitri
. Morgen früh würde er ihn in Hamburg treffen. Und er würde ihm zusetzen: Hatte das, was um Tretjak herum geschah, mit ihrer gemeinsamen Geschichte zu tun? Mit dem Geldkoffer, der mittlerweile auf dem Dachboden eines Pfarrhauses eingelagert war? Man konnte Dimitri nur auf zwei Arten zusetzen – mit Geld und mit Gewalt. Geld würde Tretjak dabeihaben, Stapel von Scheinen, gebündelt. Dimitri gehörte zu den Menschen, die sich von Bargeld verführen ließen. Die Karte Gewalt würde Tretjak anders spielen müssen. Er musste ihm eindeutig zu verstehen geben, wie weit seine Beziehungen reichten, in welche Kreise. Aber das war bereits geregelt. Wenn Dimitri morgen früh in seiner Wohnung am Hafen erwachte, würde er auf seinem Wohnzimmertisch zu seiner Überraschung ein hübsch verpacktes kleines Paket vorfinden. Es würde ein Stück Gebäck enthalten, seine Lieblingssorte: Apfelkuchen. Und eine Karte mit der Botschaft:
Mit Vorsicht zu genießen. Herzlich,
GT .
Dimitri würde in dem Kuchen herumstochern und ein paar Nägel finden, große, glänzende Baunägel. Er war Profi, er würde verstehen, was die Botschaft bedeutete: Ich kann nachts in deine Wohnung eindringen, ohne dass du es bemerkst. Ich weiß, was du magst. Und: Ich kann gemein werden.
Tretjak schrieb das morgige Datum und
Hamburg, 10 Uhr 30
unter
Dimitri
. Und einen weiteren Namen, etwas kleiner, mit Fragezeichen versehen:
Lichtinger?
Dann zog er mit dem Stift einen Kreis um die Worte.
Unter den Pfeil von
Vater
notierte er:
Heute, 20 Uhr,
Osteria
, Frau X
. Sein Vater führte etwas im Schilde, so viel war klar. Aber sein Vater war ein armseliger Wurm, der sich nicht mit dem Regler messen konnte. Diese Lektion hatte er lernen müssen. Er steckte bestimmt nicht hinter den Morden an den Wissenschaftlern. Aber vielleicht wurde er von jemandem benutzt, vielleicht war er Teil eines Planes. Das würde bedeuten, jemand wusste um ihre gemeinsame Geschichte. Wer war das? War dieser jemand Teil der Geschichte? Gestern hatte Tretjak seinem Vater die knappe Nachricht geschickt:
Sorg dafür, dass diese Frau morgen Abend in der
Osteria
ist. Und statte sie mit guten Antworten auf meine Fragen aus.
Es waren nur diese beiden Sätze, die er geschrieben hatte, genau genommen hatte er sie gar nicht richtig geschrieben, sondern als SMS in sein Handy getippt – trotzdem war ihm dabei übel geworden. Wie damals als Kind,
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