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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Landorff
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schrieb das Wort auf den Zettel. Und gleich noch die Namen des Innenministers und des Kreisverwaltungsreferenten. Eine Wespe umkreiste das Apfelsaftglas und setzte sich auf das Blatt Papier.
    Tretjak musste plötzlich grinsen. Die Polizei … die Polizei war doch eigentlich ungefährlich, warum ließ er sich nervös machen? Er begann schon, genau die Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die er normalerweise bei anderen erzeugte. Tretjak nahm das Blatt Papier, schubste die Wespe weg und zerknüllte es. Mit dem Herzbuben würde er spielen, wenn es so weit war. Vielleicht hatte er heute Nacht einfach zu wenig geschlafen, dachte er. Er hätte sich niemals auf die lange Diskussion mit Lichtinger einlassen sollen. Bestimmt zwanzig E-Mails waren da noch hin und her gegangen, bis weit nach Mitternacht. Und Tretjak hatte sich dazu noch Wodka eingeschenkt, zwei bestimmt, vielleicht drei?
    Schon früher hatten sie ihre wichtigsten Diskussionen schriftlich geführt, damals natürlich auf echtem Papier, das dann in Umschlägen übergeben wurde. Wie die Züge beim Fernschach.
    Sein Freund der Skeptiker, sein Freund der Zögerer, sein Freund der Ängstlichere von ihnen beiden. Aber Lichtinger war auch der Originellere gewesen, wirklich neue Gedanken, unverschämte, unerwartete, waren immer eher von ihm gekommen.
    Gestern Nacht hatte er ganz vorsichtig damit angefangen, sich langsam vorgetastet. Lange ging es um den Begriff Schuld. Die Frage, die Lichtinger hin und her wendete, hieß: Wie viel Schuld hatte Tretjak auf sich geladen in seinem Leben durch das, was er tat? Tretjak war dabei lange auf der falschen Fährte gewesen. Er hatte angenommen, es ginge Lichtinger dabei um die Suche nach einem Motiv, Rache zum Beispiel. Aber auf einmal hatte er begriffen: Lichtinger führte einen neuen Gedanken ein. Es drehte sich gar nicht um irdische Schuld. Sein Freund, der Pfarrer. Und plötzlich die Frage in Form digitaler Leuchtpunkte auf dem Computerbildschirm:
    Hast du schon mal dran gedacht, dass du dich vielleicht mit einer Macht angelegt hast, die keinen Namen hat, keine Adresse, keine Gestalt?
    Und noch während Tretjak eine spöttische Antwort überlegte, traf schon die nächste Mail ein:
Das ist wie mit der Weltformel, nach der die Physiker so vergeblich suchen.
    Welche Ehre. Du meinst, ich habe mich mit dem lieben Gott angelegt?
, tippte Tretjak.
    Nein
, war die Antwort.
Nicht mit Gott. Mit dem Bösen.
    Tretjak hatte in seinem Büro gesessen, auf den gepackten Flightcases, den Laptop vor sich und den Wodka. Und hatte plötzlich genau gewusst, was er antworten wollte. Und das tat er auch.
    Ende der Diskussion, Joseph. Dafür habe ich keine Zeit. Gute Nacht.
    Lichtinger hatte trotzdem noch zwei lange Nachrichten geschickt. Er schrieb von Fällen von Besessenheit, Exorzismus-Versuchen, von Verbrechen, die nie aufgeklärt werden konnten, er wies auf die auffällige Rolle des Blutes bei den Verbrechen an Kerkhoff und Kufner hin – einmal praktisch kein Blut, das andere Mal besonders viel. Er wusste, dass Tretjak diese Mails las. Und als er keine Antwort erhielt, schrieb er eine letzte.
    Gabriel, ich weiß, in deiner Welt existiert das alles nicht. Aber lass dir von deinem ältesten Freund etwas sagen, in vollem Ernst: Für die Kirche ist das keine Glaubensfrage. Wir wissen, dass es die Hölle gibt. Ich bete für dich.
    Tretjak zerknüllte das Papier, auf das er
Hölle
notiert hatte. Wenn diese Angelegenheit hier geregelt war, beschloss er, würde er sich mit Lichtinger noch einmal ausführlich darüber unterhalten.
    Unter den möglichen Nebenwirkungen von Tavor bei Langzeiteinahme war auch der etwas schwammige Begriff des Realitätsverlustes aufgeführt. Viel später sollte Tretjak sich fragen, ob es an den Tabletten lag, dass ihn sein Instinkt für das Wichtige verlassen hatte, dass er sich in so vielen Überlegungen verlor – ohne die entscheidenden Fragen zu sehen.
     
    Tretjak sah auf die Uhr. Halb zwei. Er hatte noch Zeit für eine Tasse Kaffee mit Frau Jedlitschka in der Stube. Dann würde er zu seiner Verabredung aufbrechen. Er tastete lächelnd hinter dem Gürtel unter seine Jeans und fühlte die Badehose. Gestern war die SMS von Frau Neustadt gekommen:
    Können Sie die Kontrolle eigentlich mal abgeben? Möchte Ihnen auch was zeigen. Brauche dazu nur einen Stern: die Sonne. Und vier Stunden Ihrer Zeit, nachmittags. Was meinen Sie?
    Er hatte den heutigen Nachmittag vorgeschlagen, und sie hatte prompt zugestimmt.
14 Uhr.

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