Der Regler
verabschieden. »Ein bisschen«, hatte Maler gesagt, »ist es, als würde man eine Beziehung beenden. Und je nachdem, was es für ein Fall war, kann das ganz schön heftig sein.« Was hatten sie nicht alles für Spuren verfolgt in diesem Fall. Was hatten sie nicht alles für Gedankenspiele angestrengt. Wie viele sinnlose Vernehmungen waren durchgeführt und protokolliert worden. Gritz dachte an seine Versuche, drei waren es insgesamt, einen todkranken Mann zu verhören, der unter schweren Medikamenten stand. Doktor Martin Krabbe. Eine Spur, die dieser Dimitri Steiner gelegt hatte. Angeblich hatte Krabbe eine besondere Methode des Tötens entwickelt, die bei den Leichen in ihrem Fall angewendet worden war. »Venezianische Leber.« Gritz hatte bei seinen Recherchen tatsächlich etwas gefunden. Es ging offenbar um eine lautlose Methode. Ein ganz bestimmter Stich in die Leber, von hinten ausgeführt, der so schmerzhaft ist, dass er beim Opfer zu einem kurzen Schockzustand mit Atemstillstand führt – und dem Täter Gelegenheit gibt, gewissermaßen in Ruhe zu töten, beispielsweise durch einen weiteren Stich ins Herz, diesmal von vorn. Sowohl bei Kerkhoff als auch bei Kufner waren Stiche in die Leber festgestellt worden. Krabbe allerdings hatte auf die Fragen von Rainer Gritz nur gelegentlich wie eine Schildkröte langsam die Augen geöffnet – um sie anschließend ebenso langsam wieder zu schließen. Nur einmal hatte er etwas geflüstert und Gritz gezwungen, sich mit dem Ohr ganz nah über Krabbes Mund zu beugen. Aber verstanden hatte er trotzdem nichts.
Der Sarg war in die Grube hinabgelassen worden, und die Menschen gingen bereits nacheinander daran vorbei und warfen mit einer kleinen Schaufel eine Handvoll Erde hinab. Danach nickten sie Gabriel Tretjak zu, manche gaben ihm auch die Hand. Rainer Gritz ertappte sich dabei, dass er sich in Tretjak hineinversetzte. Was würde er jetzt wohl tun? Geld war sicher genug da. Würde er sich irgendwohin zurückziehen und nur noch Sterne betrachten? Würde er das Haus seines Vaters hier oben in den Bergen selbst ausräumen, jeden einzelnen Gegenstand selbst in die Hand nehmen? Oder eine Entrümpelungsfirma damit beauftragen?
Solche Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Und vermutlich waren es diese Gedanken, die daran schuld waren, dass Rainer Gritz zwar sah, was passierte, als Charlotte Poland an Tretjak vorbeiging, es aber nicht wirklich registrierte. Poland hatte keine Erde auf den Sarg geworfen, sondern eine Rose. Und als sie bei Gabriel Tretjak stehen blieb, berührte sie seinen Oberarm. Diese Geste war es, die ungewöhnlich war, an diese Geste sollte sich Gritz später wieder zurückerinnern. Sie war von einer Art Vertrautheit, die Gritz eigentlich hätte verblüffen müssen, bei allem, was er wusste über dieses Dreieck Charlotte Poland, Paul und Gabriel Tretjak. Eine fast zärtliche Geste. Erwidert wurde sie übrigens nicht.
Wieder schlug die Glocke oben am Kirchturm. Der Pfarrer segnete das Grab und die Anwesenden. Dann war es vorbei. Als Gritz wie die anderen auch etwas unschlüssig wieder die Treppe nach oben und um die Kirche herumging, stellte er fest, dass der kleine Traktor schon nicht mehr da war, auch das Holzgestell vor dem Eingang hatte man entfernt. Die Eisenhutzweige standen jetzt an der Mauer. An der Biegung, wo der Weg aus dem Wald gekommen war, blieb Rainer Gritz auf dem Rückweg noch einmal stehen und beobachtete, wie sich die Trauergemeinde auflöste. Er sah, dass Gabriel Tretjak und Fiona Neustadt nicht diesen Weg einschlugen, sondern gleich hinter der Kirche in einen schmaleren abbogen, der nicht nach unten führte, sondern weiter nach oben. Gritz sah den beiden nach, wie sie im Wald verschwanden. Er vermutete, dass dies der direkte Weg zu dem Haus des Vaters war. Dann drehte sich der junge Kriminalbeamte um und blickte auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor sieben Uhr. Er überlegte, ob er unten im Ort noch einen Teller Pasta essen sollte. Auf der Autofahrt hatte er noch mit Maler im Krankenhaus telefoniert, und der hatte ihm den Tipp gegeben. Er hatte sich erinnert, dass Paul Tretjak bei ihrem Gespräch ein Lokal erwähnt hatte, das angeblich die besten Ravioli der Welt serviere, eine kleine Trattoria direkt am See. »Wer weiß«, hatte Maler am Telefon gesagt, »vielleicht hat er das ja erzählt, weil er da schon genau wusste, dass wir bald wieder in seinen Ort kommen müssen …« Nein, den Namen des Lokals wisse Maler nicht, nicht mal der
Weitere Kostenlose Bücher