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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Landorff
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Offensichtlich war sie nicht dem Zug gefolgt, sondern schon vorher hierhergekommen. Sie trug eine dunkelblaue Baumwollhose, eine schlichte schwarze Bluse und eine Perlenkette. Eine große schwarze Sonnenbrille verbarg ihre Augen.
    Rainer Gritz war achtzehn Jahre alt gewesen, hatte kurz vorm Abitur gestanden, als er sich entschloss, zur Polizei zu gehen. Als er das äußerte, warnten ihn seine Familie, seine Freunde alle mit demselben Argument: Das ist nicht wie im Kino, das stellst du dir falsch vor, das ist eine langweilige Behörde mit langweiligen Menschen und staubigen Büros und schrecklichen Formularen. Das konnte man in diesem Fall nun wirklich nicht sagen, dachte er mit Blick auf die bekannte Schriftstellerin Charlotte Poland, die dort drüben abseits in der Abendsonne stand. Die vier dicken Aktenordner, die jetzt in München auf seinem Schreibtisch standen, säuberlich beschriftet und zugeklappt, beinhalteten so viele Geschichten, Verzweigungen, Figuren und Handlungsstränge, dass es locker für einen Kinofilm gereicht hätte.
    Die Affären des Professor Kufner zum Beispiel. Bei den Ermittlungen in dessen Leben, bei der Suche nach Motiven für den Mord im Bozener Hotel
Blauer Mondschein
, war man schnell auf die fragwürdige Art gestoßen, mit der sich der renommierte Psychologe um Studentinnen und Patientinnen kümmerte. Man konnte es so sagen: Je jünger und je hübscher die Frauen waren, desto intensiver waren Unterricht und Therapie. Eine nicht ganz ungefährliche Leidenschaft. Kufner selbst hatte einmal in einem Aufsatz die Macht der Sexualität so beschrieben:
Wenn zwei Menschen miteinander ins Bett gehen, dann gehen sie durch eine Tür in einen neuen Raum ihres Lebens. Und sie haben keine Ahnung, nicht die geringste, was sich darin abspielen wird.
Aus den beschlagnahmten Archivunterlagen Tretjaks, die er am Jedlitschka-Hof versteckt hatte, konnte man relativ mühelos folgern, dass der Regler hier mehrmals tätig geworden war, immer dann, wenn der Herr Professor in einem neuen Raum seines Lebens in Schwierigkeiten geraten war. Den härtesten Fall hatte Gritz zu den Akten genommen: den Brief mit der Selbstmorddrohung einer 21jährigen Patientin, runde kindliche Schrift, Worte wie »außerirdische Liebe«, »Erfüllung nur im Jenseits der Welt«. Tretjak hatte offenbar bei den Eltern angesetzt, viel Geld war da geflossen, am Ende wurde die junge Frau in die USA verfrachtet, Zweijahres-Programm, Job und Therapie in Seattle.
    Und noch ein Brief war dort in den Ordnern abgeheftet. In einer ganz anderen Schrift: Zeitungsbuchstaben, ausgeschnitten, aufgeklebt. Das Bekennerschreiben zum Terroranschlag auf den Bankvorstand Ernst Kindermann vor über zwanzig Jahren. Absender: Kommando Roter Junistern. Gritz dachte mit Horror an den überaus komplizierten Dialog mit dem Bundeskriminalamt, dem Bundesnachrichtendienst und dem Verfassungsschutz. Es hatte eine ganze Weile gedauert und drei Kilometer seiner Nerven verbraucht, bis schließlich zumindest ein paar Auszüge der Berichte des V-Mannes Dieter »Dimitri« Steiner auf seinem Tisch im Polizeipräsidium lagen. Dieser V-Mann hatte eine zweite Spur verfolgt. Es hatte nämlich im Bundeskriminalamt auch die Theorie gegeben, dass das Bekennerschreiben eine Fälschung war, eine geschickte Irreführung. Dass in Wahrheit hinter der Bombenexplosion in dem gepanzerten Mercedes gar keine Terroristengruppe steckte, sondern eine Art Wirtschaftskonsortium, dem der Tod Kindermanns viel Geld wert war. Dieses Konsortium bestand aus Russen, die damals gerade dabei waren, in den Wirren des Zusammenbruchs der Sowjetunion ihr Imperium aufzubauen. Kindermann sah für seine Bank gewaltige Expansionsmöglichkeiten im Osten. Er schmiedete hinter den Kulissen eine politische Lobby für diese Expansion, und öffentlich sprach er von der »Notwendigkeit, den rechtsfreien Zustand in Russland zu beenden«. Der übergelaufene Agent Steiner sollte seine Verbindungen und Informationen nutzen, um diese Spur auszuleuchten. In seinen Berichten war dann tatsächlich der Name Gabriel Tretjak aufgetaucht, eher am Rande und nur eine kurze Zeit lang. Das Wirtschaftskonsortium hatte nachweislich einmal Kontakt zu ihm aufgenommen. Tretjak war damals noch ein junger Student, vielleicht zu harmlos, jedenfalls wurden die Ermittlungen in diese Richtung nicht weiterverfolgt. Und auch Rainer Gritz hätte den ganzen Stapel Papier, inklusive der Notizen Malers zu dem Gespräch mit Dieter Steiner, nicht zur Akte

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